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Irritiert von der Oberflächlichkeit Claus Peymans Inszenierung von Die Stühle beschäftigte ich mich eingehender mit Ionesco und dem absurden Theater. Ein 55 Jahre altes Buch sollte mich mit sehr fundiertem Fachwissen und zeitlosen Interpretationen überraschen. 

Martin Esslins 1965 erschienenes Buch Das Theater des Absurden gilt heute als Standardwerk theaterwissenschaftlicher Sachlektüre. Seinem Untertitel Von Beckett bis Pinter wird es in jedem Fall gerecht: In mehreren Essays werden Ursprung, Bedeutung und Wirkung des absurden Theaters thematisiert und dabei Wissen über Leben und Werk dessen vier bekanntesten Dramatikern vermittelt — Beckett, Adamov, Ionesco und Genet. In erhöhtem Erzähltempo werden auch (hinsichtlich des absurden Theaters) weniger einflussreiche Schriftsteller erklärt, wie Boris Vian, Günther Grass und Harold Pinter. Zu jedem der vorkommenden Autoren wird mindestens ein Stück zusammengefasst und interpretiert: Unter anderem liest man von Warten auf Godot, die Zofen, Rhinozeros und Die Stühle — Martin Esslins Interpretationen sind auch für Nicht-Theaterwissenschaftler verständlich formuliert, trotzdem fern jeden Klischees auf breitem Wissensspektrum fußend: Allein die Quellenangaben fassen 40 Seiten. Misst man dem absurden Theater heute noch Bedeutung zu, so ist auch dieses Buch aktuell geblieben.

Camus und Sartre ja, aber Beckett und Ionesco…

Tatsächlich erhält Albert Camus, Urvater des absurden Begriffs, in den letzten Jahren durchaus Aufmerksamkeit, ebenso seine existenzialistischen Kollegen Sartre und Beauvoir. So erschien 2013  die Biographie Camus: Das Ideal der Einfachheit und 2016 die vielgelesene Chronik Das Café der Existenzialisten. Es ließe sich annehmen, dass dieselbe Ehre auch dem absurden Theater, Kind vom selben Ei, zukommen würde. Schließlich lässt sich das Absurde in keinem Medium besser ausdrücken, als im Theater! In Das Theater des Absurden erklärt Esslin, dass sich das absurde Theater hauptsächlich in der Form vom existenzialistischen unterscheidet. Während beispielsweise Camus´ und Sartres Stücke klassisch-dramaturgischen Schemata folgen, macht der „ absurde Dramatiker“ den philosophischen Inhalt des Existenzialismus zur Form des Stückes. So schildert Camus´ Stück Caligula die Konflikte seines psychologisch entwickelten Protagonisten, deren schlussendlicher Ausgang eine absurde Botschaft vermittelt; in Becketts Warten auf Godot gibt es weder eine sich aufbauende Handlung, noch an der Wirklichkeit orientierte Charaktere: Eine dem absurden Theater entsprechende Inszenierung ist sozusagen ein „Antitheater“. Wir sehen Eigenschaften statt Charaktere, scheinbar spontan wirkende Kräfte statt Motivationen und ein großes Fragezeichen dort, wo man sonst einen Konflikt erwartet.

 

Theater-Geysir 

2019 verzichtet aber Theater-Gigant Peyman bei seiner Inszenierung von Die Stühle auf existenzialistische Stilmittel und begräbt die absurde Schreibweise Ionescos unter seiner Regie. Damit ist er nicht allein  nach 1970 setzte sich die realistische Regie gegenüber dem absurden Antitheater durch. Heute ist das Publikum dem Handlungslosen entwöhnt und Regisseure inszenieren absurde Stücke realistisch oder komödiantisch. Denn das Theater ist als Medium noch fester an den Zeitgeist gebunden, als die Literatur, zumal es aufgrund höherer Betriebskosten inhaltlich mehr dem Kommerz unterworfen wird  Raum für Experimente gibt es wenig. Würde demzufolge (echt-) absurdes Theater gemacht werden, bewiese dies die Aktualität des absurden Begriffes mehr als neu erscheinende Sekundärliteratur zu Camus und Sartre. Wird es aber nicht. Man könnte behaupten, dass, wenn die Literatur ein unterirdischer Warmwasserspeicher ist, das Theater geysirartig durch den Erdboden bricht, sobald die Parameter stimmen und sich genügend Interesse gesammelt hat. Demzufolge ist das Nichtvorhandensein absurden Theaters nicht zwanghaft Beweis für die Nicht-Aktualität desselben, sondern nur ein Ausbleiben des Funkens, der das Interesse der Allgemeinheit entzündet. Wer weiß, was unter der Oberfläche passiert! Wir wissen, dass der Existenzialismus durchaus noch beachtet wird und es nur der richtigen Bedingungen bedarf, um ihn wieder in seiner ganzen Pracht am Theater wiedersehen zu können.

Empfehlung

Ich empfehle Das Theater des Absurden dringend weiter – ob man es nun als Historienchronik liest oder als Vorbereitung für eine bevorstehende absurde Theaterrenaissance, es wirkt in jedem Fall bildend. Im übrigen werden die vier größten Dramatiker des Absurden (Beckett, Adamov, Ionesco und Pinter) heute durchaus gespielt  mal in Brecht´scher oder Piscatorianischer Manier aktualisiert  oder eben in Peyman´scher komödiantisiert. Und ehe man den existenzialistischen Grundgedanken jener Stücke verkennt, sollte man sich eingehender mit ihnen beschäftigt haben, bevor man sich jene Neuinterpretationen zumutet.