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Für „Die Grenze – Eine Reise rund um Russland“ (Suhrkamp Verlag, 2019) reist Autorin Erika Fatland – wie der Titel vermuten lässt – tatsächlich die 20.000 Kilometer lange Grenze Russlands entlang, durch die 14 anliegenden Staaten und die Nordostpassage. Das Buch wurde mit dem norwegischen Buchbloggerpreis ausgezeichnet und erschien in 12 Sprachen.

Erika Fatland ist eine norwegische Journalistin und Autorin. Sie studierte Sozialanthropologie entschloss sich im Zuge dessen zu Studien in der ehemaligen Sowjetunion.

Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Sowjetistan“ (ebenfalls im Suhrkamp Verlag auf Deutsch erschienen), für das sie eine Reise in mehrere Stan-Länder unternommen hatte und das mit dem norwegischen Buchhandelspreis ausgezeichnet wurde.

Für „Die Grenze – eine Reise rund um Russland“ (Original 2017 im Kagge Forlag AS, Oslo erschienen) bewegte sie sich fast ein Jahr lang an der russischen Grenze entlang und erforschte dabei die innen- und außenpolitischen und kulturellen Beziehungen der Nachbarländer und ehemaligen Sowjetstaaten.

© Suhrkamp Verlag

Das Meer

„Das Meer“, so der sinnliche Name des ersten Teils über die Reise mit dem Schiff durch die Nordostpassage. Humorvoll berichtet die Autorin über ihre Mitreisenden. Fatland selbst ist nicht nur die mit Abstand jüngste Reisende, sondern auch die Einzige unter den 48 Passagieren, die noch nicht in der Antarktis war. Satte 20.000 Dollar kostet die fast einmonatige Reise auf dem Schiff nördlich des Kontinents.

© Erika Fatland

Das Buch ist keinesfalls eine einfache Reisebeschreibung, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit Land und Leuten, sowie dem Kommunismus – damals und heute. Dass die heute 36-jährige Autorin Journalistin ist, ist schnell an ihrer Neugier und Offenheit der fremden Kulturen gegenüber festzustellen. Ihre historische und anthropologische Auseinandersetzung der ehemaligen Sowjetstaaten, angereichert durch die Erfahrung direkt vor Ort ist das, was das Buch ausmacht. So bemerkt sie kritisch die Verschmutzung der Umwelt und damit zusammenhängend Russlands Umweltpolitik, die leider besonders im Norden des Landes eher zu wünschen übrig lässt. Dabei kommen ganz ungeahnte Probleme auf:

Ein möglicherweise noch erschreckenderes Szenario ist das Abschmelzen des Permafrostes in der Arktis und in Sibirien. Das Schmelzen führt nicht nur zu erhöhter Erosion, sondern auch zur massiven Freisetzung von Klimagasen, die sich in Tausenden von Jahren im Permafrost abgelagert haben. […] Welche Viren und Bakterien sich in dem dahinschmelzenden Permafrost verbergen, weiß niemand.

© Erika Fatland / Die Überreste der Sowjetunion

Die Halbinselhälfte

Wieder auf dem Festland, scheut sich die Autorin nicht, direkt mit dem brisantesten aller ihrer Reiseländer zu starten: Nordkorea. Ja, man kann dorthin reisen – nein, nichts für Asienanfänger. Die Reise ist geführt und streng überwacht. Es herrscht Programmpflicht und man darf nicht allein umhergehen; eine Runde spazieren auf dem Parkplatz des Hotels ist das höchste der Gefühle. Fatlands Beschreibung dieses unbekannten Landes liest sich wie die Reise zu einem anderen Planeten.

© Erika Fatland / Pjöngjang

China – die Multimacht

„Bevor ich aufbrach, warnte man mich, China sei wie Indien ohne Durchfall“, schreibt die Autorin, wobei sie das allerdings nicht bestätigen kann. Das Chaos Chinas ist dann doch ein ganz anderes. Zwar spricht sie beeindruckende acht Sprachen, darunter allerdings kaum ein Wort Chinesisch, was ihr mehr als einmal zum Verhängnis wird. Der Teil über China bleibt doch verhältnismäßig kurz; das Land ist hier eher zur Durchreise gedacht. Eine ausführliche journalistische Reisebeschreibung über China müsste so lang sein, dass sich ein eigenes Buch darüber ausgehen würde.

Wo ist das Nirgendwo?

Schwere Frage, einfache Antwort: in der Mongolei. Pi mal Daumen drei Millionen Menschen wohnen in dem riesigen Land, davon circa die Hälfte in der Hauptstadt mit den vielen A’s, Ulaanbaatar, und davon wiederrum mindestens die Hälfte in Zelten in der Peripherie der Stadt. Das Klima könnte man optimistisch als frisch bezeichnen, selbst die Autorin als Norwegerin kommt hier auf ihre Kosten. Sie besucht Nomaden und liefert ausführliche Erklärungen zum einst größten Reich der Welt unter Dschingis Khan.

© Erika Fatland / Die Reiseroute über Land

Stan reloaded

Wie bereits erwähnt, war die Journalistin bereits für ihr Buch „Sowjetistan“ in verschiedenen Stan-Ländern unterwegs, weshalb ihre Perspektive beim erneuten Besuch besonders interessant war: „Damals hatte ich geschworen, nie wieder nach Kasachstan zurückzukehren. In jedes andere Stan-Land schon, wenn es unbedingt nötig wäre, aber nicht nach Kasachstan.“ Trotzdem verbringt sie auch jetzt wieder einen Teil der Reise in dem riesigen Land, der/die LeserIn kommt hier also nicht zu kurz. So ist etwa die erste Raketenabschussbasis der Welt in Baikonur zumindest einen leserischen Besuch wert.

Kaukasus

Für viele besteht der Kaukasus aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan, sowie ein bisschen Russland. Dass es dort aber auch die abtrünnigen Regionen Bergkarabach und Abchasien gibt, ist nicht so bekannt, unter anderem weil sie international nicht anerkannt und immer noch umkämpft sind. Erika Fatland macht aber keinen Erholungsurlaub und scheut sich nicht, auch in diese Regionen zu reisen und mit regimekritischen EinwohnerInnen, sowie AktivistInnen über die politische und kulturelle Lage zu sprechen, immer auch mit dem Blick auf die Beziehung zu Russland gerichtet. „In welchem Maß kann man eigentlich eigenen Eindrücken und Erinnerungen vertrauen? Nicht allein, dass wir subjektive Geschöpfe sind, wir sind auch unbeständig“, genau wie die Grenzen eines Landes.

Ukraine – Land ohne Stillstand

Den tiefen Respekt der Menschen vor der Literatur schätzte ich am meisten bei den Russen und den Ukrainern, zwei Völkern, die im Laufe der Jahre so viel gemeinsame Geschichte erlebt haben, dass es nicht immer sinnvoll ist, sie auseinanderzudividieren.

Der ukrainische Teil des Buches liest sich als interessante aktuelle Zusammenfassung der Lage in der Ukraine. Die Autorin kennt sich durch ihre Studien bereits aus, denn sie hatte das Land schon früher einmal besucht. „Neun Jahre später kam ich zurück in ein Land im Ausnahmezustand.“ Der/die LeserIn kann sich selbst ein Bild machen: Ein Report über die Krim-Krise und warum sie ihre schwedischen Sprachkenntnisse ausnützen kann, sowie ein Statusbericht zu Tschernobyl macht die Ukraine zu einem besonderen Exkurs in Europa.

Grenze ohne Grenzen

„Was sind das für Dinger?”, fragte der Chefzöllner und hob die Schachtel mit meinen Kontaktlinsen hoch.“ Dass die Autorin bei der Reise nicht nur an ihre journalistischen, sondern auch immer wieder an ihre persönlichen Grenzen kommt, beschreibt sie viel vergnüglicher als es eigentlich war. Seien es ihre Fotos, ihr Reiseführer oder eben die Kontaktlinsen – immer wieder droht irgendetwas auf der Strecke zu bleiben, weil es als bedrohlich eingestuft wird. Freiheit ist ein Luxusgut, nicht zuletzt die materialistische.

„Wer sind eigentlich die Weißrussen?“

Gute Frage. „Historisch hat ein weißrussisches Reich eigentlich nie existiert“, so Fatland. Dass nicht jeder heiß auf eine Reise in dieses Land ist, das noch gar nicht so lang für TouristInnen geöffnet ist, ist verständlich. Dafür gibt es ausführliche Informationen – historisch, politisch und kulturell – von der Autorin. Weißrussland ist als osteuropäisches Land nicht nur von der Sowjetzeit gezeichnet, sondern auch unweigerlich vom zweiten Weltkrieg. „Mit einhunderttausend Juden gehörte das Ghetto in Minsk während des Krieges zu den größten in Europa“, berichtet die Anthropologin. Sie spricht mit Überlebenden, deren Geschichte tief berührt und entsetzt. Außerdem kommt der ehemalige Präsident Stanislau Schuschkewitsch in einem Interview zu Wort, der 1991 u.a. das Belowescher Abkommen als erster unterzeichnete, durch das die Sowjetunion aufgelöst und zur Geschichte wurde.

 

© Erika Fatland / Stanislau Schuschkewitsch

Polen und Baltikum

In Litauen kommt Erika Fatland zum ersten Mal wieder in Berührung mit dem Euro. Das Land, von dem man zumindest einen Begriff hat, erklärte sich 1990 als erster sowjetischer Staat von der UdSSR unabhängig. Auch in den Nachbarländern Polen und Lettland ist die Verbindung zur Sowjetunion und zu Deutschland noch zu spüren. Estland beeindruckte unter anderem 1989 mit einer zwei Millionen langen Menschenkette (von Tallinn bis Vilnius), die mit Marju Lauristin ihren Anfang fand.

Skandinavien(de)

Finnland war nie Teil der Sowjetunion, aber es grenzt trotzdem an das flächenmäßig größte Land der Erde und steht natürlich mit ihm seit langer Zeit in Verbindung. Es ist das letzte Land vor Norwegen, der Heimat der Autorin. Wie bei Finnland, dem angeblichen Zuhause des Weihnachtsmannes, denkt man bei Norwegen eher an wunderschöne Fjorde und Wasserfälle (passend dazu wird von der Rentierpolizei berichtet) als an die Grenze zum ehemaligen eisernen Vorhang. Die Autorin bewegt sich nun per Kajak auf den letzten Metern an der Grenze entlang. Schließlich lässt sie Russland hinter sich, dass sich durch seine Nachbarländer definiert wie durch sich selbst.

© Erika Fatland

Fazit

„Die Grenze – Eine Reise rund um Russland“ ist eine absolute Empfehlung, nicht nur für Reiselustige. Es bedarf eines besonders großen Kompliments an die Autorin, die durch ihre sympathische und wissbegierige Persönlichkeit Wissenslücken auf interessante Art und Weise auffüllt. Tatsächlich hätte wohl niemand besseres auf die Reise geschickt werden können, denn sie punktet immer wieder – ohne Angst vor Konsequenzen – bei ihrem Gegenüber und den LeserInnen, wobei sie als Journalistin objektiv bleibt und nie wertend ist.

Das Besondere ist vor allem der unbezahlbarer Einblick in unzugängliche Regionen wie Nordkorea, die Abtrünnigen im Kaukasus oder Weißrussland. Obwohl es auch einige Strapazen gegeben hat, stellt sie immer ihre Aufgabe in den Vordergrund, ist persönlich, aber ohne Gefühlsduselei. Das Wort „Grenze“ bekommt eine neue Bedeutung:

Eine Grenze ist einerseits ausgesprochen konkret, andererseits aber auch äußerst abstrakt. Im Laufe der vier Wochen auf See kreuzten wir Russlands maritime Grenzlinie mehrfach; wir bewegten uns innerhalb russischer und internationaler Fahrwasser, hin und her über gestrichelte Linien, die nur auf der Karte des Kapitäns und dem GPS sichtbar waren. Jedes Mal, wenn wir diesen unsichtbaren Strich überquerten, mussten die russischen Grenzposten mindestens vier Stunden im Voraus gewarnt werden. Die Grenze war eine Abstraktion, es gab sie eigentlich nicht, und doch war sie eine absolut unumgängliche Realität.

Nicht ohne Grund hat es drei Jahre bis zur Publikation gebraucht: Die ausführliche Recherche zur Geschichte macht sich bezahlt, denn die Zusammenhänge werden verständlich erklärt. Die teilweise Überlastung durch den Reichtum an Fakten wird stets durch Untermalung mit humorvollen Beschreibungen der Menschen, auf die sie traf, wettgemacht. Abgerundet mit Farbfotos und Karten der Reiserouten, Zitaten und der Geschichte Russlands in Jahreszahlen, gehört es auf den Präsentierteller jeder Buchhandlung.

Hut ab für dieses Werk!

Infos und weiterführende Links

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