Durch die innereuropäische Abschottungspolitik rückt das vor kurzem doch noch ach so weit entfernte und abgetane Drama im Mittelmeer auf einmal ganz nah: Im Wintersportgebiet im italienischen Piemont tun sich Abgründe auf.
Seit Anfang 2015 suchen immer mehr Menschen in Europa Zuflucht. Erst war Lesbos Anlaufpunkt für Geflüchtete, dann Idomeni. Die Balkanroute wurde geöffnet. Immer dort wo Europa großzügig entschied, durften Geflüchtete weiterziehen. Rechtspopulistischen und extrem rechten Forderungen folgend sind im Frühsommer 2018 ein großer Teil der innereuropäischen Grenzen hochgerüstet. Als Folge daraus verlagern sich Fluchtrouten ein weiteres Mal. Über das Mittelmeer, nach Italien oder Spanien. Unter Lebensgefahr versuchen Geflüchtete ihr Ziel zu erreichen, sowohl an inner- als auch an außereuropäischen Grenzen.
Ein weiteres Kapitel dieser grausamen Geschichte, die von so vielen – fälschlicherweise – als ‘Flüchtlingskrise’ bezeichnet wird, findet näher am Zentrum Europas statt, als wohl viele denken würden: Im italienischen Bergdorf Bardonecchia, einem berühmten Ski und Wintersportzentrum in Norditalien. Geflüchtete versuchen hier, nach einer Grenzschließung weiter südlich, über schneebedeckte Bergpässe nach Frankreich zu gelangen. Dieses Elend spielt sich in der bildschönen Berglandschaft des Piedmont ab. Die Gefahr von Unterkühlung, Lawinen und sich zu Verirren ist gerade für Menschen mit wenig Erfahrung am Berg sehr groß.
Seit mittlerweile über einem halben Jahr versucht die italienische NGO Rainbow 4 Africa Menschen, die am Bahnhof von Bardonecchia gestrandet sind, zu helfen. Die Mitarbeiter der NGO können die Geflüchteten gerade mit dem Nötigsten versorgen, das es zum Überleben braucht: Warmes Essen, einem Schlafplatz während stürmischer und kalter Winternächte, medizinischen Beistand und Erste Hilfe, sowie warme Kleidung. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der NGO, die unter anderem auch ein Seenotrettungsschiff auf dem Mittelmeer betreibt, versuchen einen Überblick zu behalten, wie viele Geflüchtete versuchen die Berge zu überqueren. Jede medizinische Behandlung durch die Ärzte wird vor Ort dokumentiert. Ohne das notwendige Wissen über die Berge und die alpinen Gefahren, haben sich bereits zahlreiche tragische Schicksale abgespielt. Giovanna, ehrenamtliche als Ärztin für Rainbow 4 Africa in Bardonecchia im Einsatz gibt ihr Bestes um die Menschen zu versorgen, die am Bahnhof ankommen oder von den Bergen zurückkehren. Sie fasst die Situation so zusammen:
“Geflüchtete kommen ohne Vorbereitung und Kleidung, aber sie wissen den Weg. Mit diesem grausamen Wetter ist es unmöglich. Wir versuchen die Gefahren der Berge und wie man überlebt zu erklären… Ich sehe zwei parallele Welten … Manche Einheimischen helfen und arbeiten mit uns, doch das Leben der Touristen geht unbehelligt weiter … Alles in allem kümmern sie [Anm. der Red.: die Touristen] sich nicht wirklich um das Schicksal der Geflüchteten hier in Bardonecchia …” – Giovanna, ehrenamtliche Ärztin, Rainbow 4 Africa
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Am häufigsten muss Giovanna Unterkühlungen versorgen. Letztes Jahr mussten einem Mann seine Zehen amputiert werden. Im Sommer 2017 fiel ein Geflüchteter ins Koma, nachdem er am Berg stürzte, als er versuchte der französischen Gendarmerie zu entkommen und seinen Kopf an einem Felsen stieß. Im Januar diesen Jahres sagte Giovanna sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Toten gehört oder selbst den Tod von Geflüchteten feststellen müssen. Zu diesem Zeitpunkt stimmte die italienische Bergwacht der Einschätzung von Rainbow 4 Africa zu. Hinzu kommt, dass nicht bekannt ist was sich unter dem Schnee befindet. In den kommenden Monaten kann es also sein, dass unter Lawinen verschüttete oder in den Bergen Verirrte gefunden werden. Laut Berichten von Aktivist*innen aus der Gegend ereignete sich Ende März ein tragischer Todesfall. Massgeblich kann wohl die Verantwortung bei der französischen Gendarmerie gesucht werden. Nach mehreren Hoheitsgebietsverletzungen durch die französische Gendarmerie und wiederholtem Fehlverhalten kam es Anfang April sogar zu einer Einbestellung des französischen Botschafter durch Italien.
Die Verzweiflung war besonders im Gespräch mit einem 18-jährigen Geflüchteten, der gerne anonym bleiben möchte, spürbar:
“Ja, wir wissen um die Gefahren und die Leute weisen uns darauf hin, aber wir wollen es trotzdem versuchen.”
Die bewegende Geschichte seiner Flucht beginnt in Guinea und ist der von so vielen Geflüchteten ähnlich. Über das Mittelmeer erreichte er Italien auf Sizilien. Kurz später wurde er in eine Geflüchtetenunterkunft für Minderjährige in der Emilia-Romana verlegt. Hier lebte er, ging zur Schule. Am Tag als er volljährig wurde aber, verfiel sein Anspruch auf weitere Versorgung durch die Einrichtung. Er wurde obdachlos, versuchte erst Deutschland zu erreichen, war bereits über die Grenze und wurde zurückgeschickt. Dann fasste er den Entschluss nach Frankreich weiterzuziehen, dem ehemaligen Kolonisator Guineas. Denn seiner Meinung nach trägt Frankreich durch die Ausbeutung zur Kolonialzeit mindestens eine Teilschuld an der ökonomisch schlechten Situation seines Heimatlandes. Er will in Frankreich ein neues, besseres Leben starten. Nebenbei bemerkt spricht er fliessend französisch und italienisch; kann sich auf Englisch verständigen.
In Briançon, der Stadt auf der französischen Seite der Grenze, scheint die Unterstützung für Geflüchtete strukturell deutlich besser organisiert zu sein, als in Bardonecchia. Laut Aktivist*innen, unterstützt ein Netzwerk aus mehreren tausend Menschen, eine Gruppe, die eine ehemalige Polizeistation besetzten und diese in eine selbstorganisierte Geflüchtetenunterkunft, mit dem ironischen Namen CRS verwandelten (Aufstandsbekämpfungseinheit der französischen Polizei- gleichzusetzen mit BFE und USK). Von hier ausgehend starten jede Nacht Bergführer*innen und Sportler*innen, die helfen wollen. Sie suchen in den Bergen nach Menschen, die sich dort im Schnee verirrt haben, denn: Die bereits am Tag gefährlichen Konditionen werden, falls diese unterschätzt werden mit dem Einbruch, der Nacht lebensbedrohlich. Während der nächtlichen Patrouillen suchen die Aktivist*innen auf Schneeschuhen und Skiern nach frischen Fußspuren im Schnee. Diese wären ein Zeichen, dass eventuell Geflüchtete, um Kontrollen zu umgehen, die ausgeschriebenen Pfade verlassen haben. Die Unterstützung dieser losen Gruppe ist leider nur in limitiertem Rahmen möglich. Falls sie Geflüchtete auf der italienischen Seite der Grenze, die wie ein Strich über die Bergkämme verläuft, finden und diese nach Frankreich bringen, laufen sie in Gefahr als Menschenschmuggler angeklagt zu werden. Hinzu kommt, dass, wenn die Lawinengefahr zu hoch ist, es stürmt oder die Straßen blockiert sind, die Aktivist*innen nicht das gesamte betroffene Gebiet absuchen können. Doch gerade bei Sturm wäre es umso wichtiger möglicherweise am Berg gestrandete zu suchen und diesen zu helfen. Die Gruppe ist auf alles mögliche gefasst – zieht aber jeden Abend los in der Hoffnung niemanden zu finden und versorgen zu müssen. Ihre Hoffnung: Alle Geflüchteten die es versuchen, schaffen es vor Einbruch der Dunkelheit zum CRS in Briancon.
Alles in allem ist die Situation in der Berggegend erschreckend und menschenunfreundlich. Die französische Gendarmerie versucht alles um Geflüchtete, die versuchen auf normalen Straßen die Grenze zu überqueren, zu fassen. Die Grenzpolizist*innen laden die Geflüchteten in ihre Wagen und fahren sie ein paar Kilometer in italienischem Hoheitsgebiet und führen eben sogenannte “Push Backs” aus. Die französische Regierung nutzt die Dublin III Vereinbarung um dies zu rechtfertigen. Dass dies allerdings keine Lösung für die Situation ist, scheint mehr als offensichtlich. Zurück in Italien versuchen Geflüchtete oftmals wenig später erneut über die Berge zu gelangen – weiter entfernt von Straßen, für die Gendarmerie schwieriger zu fassen, aber auch deutlich gefährlicher. Ein sicherer Weg die Grenze zu überqueren, sollte schnellstmöglich geschaffen werden.