Das Team von Delay Magazine präsentiert Woche für Woche, was sich in der Welt von Kunst und Kultur getan hat, welche Platten und Singles man guten Gewissens in die Hände nehmen kann, bei welchen Filmen und Vorstellungen sich ein Besuch lohnt und was man tunlichst meiden sollte.
14.01. – 20.01.
Bei eisiger Kälte blicken wir auf eine bewegte Musik-Woche zurück. Wir fliehen unter kuschlige Decken zu den wärmenden Klängen von Deerhunter und The Drums, bereiten uns mental auf die einprallende Kälte mit Radiohead vor, und werfen uns zu den temporeichen Gitarren von TrollfesT und Soilwork die Piste hinunter. Auch Hip Hop beehrt unser Revue erneut, zwei besonders starke Veröffentlichungen von Malibu Ken und Yassin warten nur darauf, auf den Plattenteller zu hüpfen.
Deerhunter – Why hasn’t Everything Disappeared?
(Neo-Psychedelia, Indie Rock / 4AD 2019)
Aus den Tiefen Atlantas präsentiert Deerhunter ein neues Projekt, welches genau so lieblich und verträumt, wie man es von ihnen gewohnt ist, klingt. Der psychedelische Traum eines Synthesizers wäre wohl ein adequater Ausdruck, um die Platte zu beschreiben, einige der wundervollsten musikalischen Atmosphären des noch jungen Jahres lassen sich hier finden. Die herausstechenden Momente des Albums sind wohl die instrumentalen Titel, wie ,,Greenpoint Gothic”, oder zumindest jene Songs, in denen Frontmann Brandford Cox gemeinsam mit dem Rest der psychedelischen Hirschjägern die Klänge und Atmosphären, die alleine durch Instrumente erschaffen werden können, in den Vordergrund stellen. Siehe Titel wie ,,Nocturne” oder ,,Tarnung”. Die Perkussionsabteilung liefert großartige Arbeit, besonders in ,,No one’s Sleeping”, doch der Synthesizer stiehlt in den meisten Tracks die Schau, mit Harpsichord-ähnlichen Klängen, die einen unweigerlich an eine ,,Alice Im Wunderland”-Landschaft denken lassen. Die Platte schwächelt jedoch auf textlicher Ebene, was im Hinblick auf frühere, introspektive und kreative Texte verwundert. Deshalb kann man davon ausgehen, dass ,,Why Hasn’t Everything Disappeared” ein Album ist, welches mit den Sinnen erfasst werden sollte, nicht unbedingt auf textlicher Basis zerdacht. Die ersten Reaktionen auf das Album waren durch die Bank mit gemischen Gefühlen begleitet, nicht zuletzt da es wohl Hörende, die besonders von der 2010er-Veröffentlichung ,,Halcyon Digest” angetan waren, etwas enttäuschen könnte. Dennoch ist die Platte ein gemütliches und erfreuliches Werk, selbst wenn es dem Neo-Psychedelia-Genre nicht viel Neuerungen bieten mag.
Anspiel-Tipp: Greenpoint Gothic, Nocturne, Nocturne
– Reg
James Blake – Assume Form
(Alternative R&B, Art Pop / Polydor 2019)
In den frühen 2010ern trat der Ausnahmeproduzent James Blake an die Speerspitze des melancholischen Dubsteps und gab diesem eine neue, düstere, so wie atmosphärische Form, den Post-Dubstep. Mit stetig wandelnden Synthesizer-Sounds, hochgepitchten Stimmfragmenten und unkonventionellen Klavier-Kompositionen kreierte er einen lebendigen Sound, welcher in zwei fantastischen Alben mündete („James Blake“ und „Overgrown“). In den letzten Jahren wirkte er als Produzent für Größen wie Beyonce, Kendrick Lamar und Frank Ocean, welche ihn klanglich näher an die schillernden Sphären der Pop-Welt brachten. Eine Tendenz die auch auf „Assume Form“ zu spüren ist. Als fast schon logischer Schritt, in Anbetracht von James düsteren musikalischen Wurzeln, präsentiert sich das Eintauchen in die Sounds der aktuellen Platte als Welle an düsteren Trap-Balladen. Passend dazu ist Trap-Superstar Travis Scott als Featuregast auf dem Album vertreten, und auch einer der Hauptproduzenten dieses Sounds, Metro Boomin, gibt sich hier die Ehre. Jedoch fügen diese Elemente wenig zu James Blakes Sound hinzu, welcher immer schon packend und düster war, eher noch entfernen sie etwas von dessen Feinheiten. „Assume Form“ erreicht seine Höhen in dem Zusammenschluss diverser Klangwelten, welche in das Album fließen. Atmosphärischer Pop, meistervoll programmierte Synth-Sounds, künstlerische Komposition und interessante musikalische Gäste. Hierbei entsteht unter anderem das wundervoll Pop-Duet „Barefoot In The Park“. Auf diesem gleiten gleich zwei elegante Stimmen, die der Flamenco-Pop Wunderkünstlerin Rosalia und James emotionsgeladener Bariton, gemeinsam mühelos über die packende, von Latin-Pop inspirierte Produktion. Ein weiteres Highlight bietet „Where’s The Catch“, in dem OutKasts Rap-Legende Andre 3000 fantastische Verse abliefert, welche sich perfekt in James Kompostion einfügen. Kraftvoll und athmosphärisch, sowie düster und aufbauend zugleich. Songs wie der Title-Track, „I’ll Come Too“, „Don’t Miss It“ und „Lullaby For My Insomniac“ bringen eher Blakes üblichen Sound, zeigen aber eine neu gefundene Klarheit, welche in zugänglicheren Songs mündet, die jedoch in ihrer Qualität nichts einbüßen. „Assume Form“ präsentiert sich als ein meisterlich produziertes Art Pop-Album mit einem Songwriting-Focus auf dessen Pop-Seite. Die dabei entstehenden Höhepunkte werden sicherlich als einige der besten Songs des Jahres in Erinnerung bleiben, jedoch sind auch einige Tracks anzutreffen, welche schlichtweg qualitativ nicht an diese heranreichen.
Anspiel-Tipp: Barefooot In The Park, Where’s The Catch?, Don’t Miss It
– Daniel
(Experimental Hip Hop, Abstract Hip Hop / Rhymesayers 2019)
ALBUM DER WOCHE
Hinter dem Projektnamen Malibu Ken verbergen sich zwei Szenegrößen der US-amerikanischen Populärmusik: Underground-Guru und Wörterbuch-Rapper Aesop Rock sowie Tobacco, seines Zeichens Mastermind hinter dem Neo-Psychedelia-Projekt Black Moth Super Rainbow – solo ebenfalls als Rapper am Werk. Die Psychedelia-Elemente klingen auch tatsächlich ein wenig aus den Beats hervor, die von Aesop auf dem selbstbenannten Debüt-Album berappt werden. Die Instrumentals sind, solange Aesop sprachliche Wunder wirkt, zweckdienlich und unaufdringlich im Hintergrund (dennoch anmutig produziert), stellenweise treten sie auch etwas prominenter auf, etwa im letzten Abschnitt von ,,Sword Box” oder beim (klanglich nach Horror Synth anmutenden) Chorus von ,,Acid King”. Je weiter die Platte jedoch fortschreitet, desto gefühlt exzessiver und voller werden die Instrumentationen, ,,Suicide Big Gulp”, ,,1+1=13” und der eindrucksvolle Closer ,,Purple Moss” kommen bereits mit prominent in den Vordergrund gerückten, oppulenten Synthie-Klängen daher. Glücklicherweise kann ein Hip Hop-Veteran wie Aesop Rock flowlich selbst bei solch verworrenen Beats leicht mithalten.
Aber was wäre ein Projekt mit Aesop-Beteiligung ohne seine markanten Lyrics. Auch dieses Mal ist er thematisch breit aufgestellt. So geht es in ,,Tuesday” um mangelnde Hygiene und sprießende Pilze, ,,Save Our Ship” stellt ein aktualisiertes Hip Hop-Retelling des Billy Joel-Hits ,,We Didn’t Start The Fire” dar, ,,1+1=13” philosophiert über Aberglauben und Unglück. ,,Churro” widmet sich dem chaotischen Charakter der Natur (und skurrilerweise kätzchenverzehrenden Adlern), der grandiose Storyteller-Track ,,Acid King” nimmt sich den morbiden Fall von Ricky Kassio und die Satanic Panic der 80er vor. Textlich werden die einzelnen Titel natürlich verworren wie immer ausstaffiert, also Mitlesen der Lyrics zahlt sich definitiv aus. Ein wunderbare Platte, die ohne weiteres an kürzlich veröffentlichte Hip Hop-Highlight wie ,,Atrocity Exhibition” (2016) und ,,Kids See Ghosts” (2018) anschließen kann. Hoffentlich beehrt uns das Duo bald mit einer Fortsetzung.
Anspiel-Tipp: Tuesday, Dog Years, Acid King
– Gaps
(Singer_Songwriter, Electropop / Island 2019)
Der Rahmenbedingungen rund um ein musikalisches Werk haben oft einen ebenso lebendigen Anteil wie das Werk selbst. Mike Posner machte vor knapp drei Jahren auf seinem Mega-Hit „I Took A Pill In Ibiza“ seine eigene Rahmenhandlung zum Thema: Ein verbrauchtes One-Hit-Wonder („Cooler Than Me“ 2010) der seine Zeit im Rampenlicht abgedient hat. Der melancholische Tropical-House Remix, welcher den Song an die Spitze der Pop-Welt brachte, fing genau die trübsinnige Stimmung einer Party ein, die schon viel zu lang andauert. Auch auf seinem neuen Album macht Mike Posner seine persönlichen Erlebnisse zur zentralen Thematik. Das Ende seiner Beziehung, der Tod seines Vaters und das Verscheiden seines Freunds Avicii formen hier eine Emotional schwerwiegende Basis der Trauer. Auch der erste Song des Albums weist auf die höchst persönlichen Themen des Albums hin, und gibt dem Hörer Instruktionen dieses nur am Stück, ohne jegliche Form der Ablenkung zu hören. Ein Rahmen, persönlich vom Künstler gewählt, der höchste Aufmerksamkeit auf seine Emotionen und so auch auf seine Songs legt. „I Took A Pill In Ibiza“ funktionierte, weile der Rahmen und die Musik zu einem stimmigen Ganzen gefunden haben. „A Real Good Kid“ funktioniert nicht, weil hier diese Synthese nicht stattfindet. Mike Posners Songwriting fehlt hier der Feinschliff solche Themen zu überzeugenden Pop-Songs zu machen. Als ein Beispiel dient hier „Move On“: Die Singer-Songwriter Stimmung der Strophe und des Pre-Chorus bringt eine emotionsgeladene Einleitung für einen Song, der sich bereit macht kathartische Höhen zu erreichen. Dann ertönt der Refrain und bringt sonnigen Tropical-House. Keine Katharsis, nur ein erneutes Aufwärmen des letzten Hits, ohne jegliche Melancholie, welche „Move On“ gebraucht hätte um zu funktionieren. Es klingt als würde Robin Schulz versuchen einen Bon Iver-Song zu schreiben. „Wide Open“ präsentiert sich als ein von emotionellen Gitarrenklängen geleiteter Pop-Song. Hier fügt sich zunächst das Instrumental und Mike Posners Klage angesichts seiner gescheiterten Beziehung gut zusammen, jedoch verflüchtigt sich jede emotionale Intensität nach zwei Minuten wieder, der Song windet sich für den Rest seiner Laufzeit als ein Intro für den kommenden Song ziellos durch die Gegend. Der folgende Track, „Song About You“, versucht durch die Verarbeitung von Wut Dampf in das Album zu bringen, jedoch fällt die Intensität des Songs flach und er wirkt weniger wutgeladen, als eher belanglos. Ein weiterer Problempunkt des Albums ist das unausgeglichene Mixing. In Momenten stimmlicher Intensität wirkt Mikes Stimme so laut, dass die Kraft der Instrumentierung verschluckt wird und sich selbst verzerrt. Auch wenn die Instrumente laut werden, klingen sie teilweise verzerrt und schlecht produziert, siehe vor allem „How It’s Supposed To Be“. Das Album bringt jedoch auch wirkliche Momente von ungefilterter, emotionaler Schönheit. „January 11th 2017“ ist ein gelungenes Tribut an Mike Posners Vater, geleitet durch ein Gesangsensemble, und „Perfect“ verbindet seine Einflüsse zu einem intensiven Pop-Song, der wirkliche emotionale Höhen erreicht. „Stuck In The Middle“ bietet die beste Ausführung des melancholischen Tropical-House, welcher den Künstler zu erneutem Ruhm verschafft hat, und wird somit zu einem wirklich stimmigen Pop-Song. Alles in allem ist „A Real Good Kid“ ein ehrliches Album voller persönlicher Katharsis für den Künstler selbst – und das ist wohl das Wichtigste -, jedoch kommt davon leider wenig beim Hörer an.
Anspiel-Tipp: Stuck In the Middle, Perfect, January 11th, 2017
– Daniel
(Neue Deutsche Härte, Industrial Metal / Napalm 2019)
ZITRONE DER WOCHE
Anspiel-Tipp: Tausend Mann und ein Befehl
– Reg
A Pale Horse Named Death – When the World Becomes Undone
(Doom Metal, Alternative Metal / Nuclear Blast 2019)
Die zwei ehemaligen Type O Negative-Mitglieder Sal Abruscato und Johnny Kelly veröffentlichen mit ,,When the World Becomes Undone” ihr mittlerweile drittes Album als “A Pale Horse Named Death”. Schaurig schön und voller Emotionen führt uns der ehemalige Drummer Sal mit klarer Stimme durch ein Meisterwerk. Die Type o Negative Wurzeln sind deutlich zu spüren, obwohl musikalisch einen anderer Schwerpunkt gesetzt wird: Anstelle eines Type O-typischen, lasziv klingenden Basses sind wunderschöne Melodien und eingängige Schlagzeug-Rhythmen vorzufinden.
Das Album erinnert an einen Ritt durch eine dystopische Welt, alles ist zerstört, ein Funken Hoffnung ist jedoch übrig geblieben. Vielleicht ist es aber auch nur ein Blick auf das nahende Ende, welches als Erlösung erscheint, wie Titel wie „End of Days“ und „Dreams of the End“ vermuten lassen. Auf der Reise schein es, als ob man indigenen Menschen begegnen, durch Wind und Wetter reitet und ewig anmutende Landschaften sieht.
Für Fans des Gothic und Doom Metals ein absolutes Muss, für jeden anderen ist es jedoch auch absolut hörenswert.
Anspiel-Tipp: When the World Becomes Undone (+ As it Begins), Vultures
– Anna
(Rap Rock, Alternative Rock / Eleven Seven 2019)
Die Lyrics scheinen auf Herzschmerz und “Die Welt ist so gemein zu mir”-Teenage Angst hinaus zu laufen, jedoch ohne das Gefühl in der Musik selbst zu übermitteln.
Positiv zu sehen ist die Beschäftigung der Texte mit Angstzuständen, Depressionen und dem Gefühl, nicht gut genug zu sein – was jedoch kein neues neues Terrain für eine Selbsthilfe-Band wie Papa Roach ist.
Anspiel-Tipp: Not the only one, Feels like home
– Anna
(Melodic Death Metal / Nuclear Blast 2019)
Hardhitting von (fast) Anfang bis Ende, eine Mischung von cleanen und uncleanen Vocals und eingängige Riffs, alles in Allem exzellenter Melodeath. Die Südschweden haben ihr 14. Album veröffentlicht und dabei gute Arbeit geleistet. ,,Verkligheten”, Realität zu Deutsch, heißt das Werk und ist seit über dreieinhalb Jahren die erste Veröffentlichung der Band. Der Openingtrack ,,Verkligheten” versetzt einen durch seine sanfte Melodie in eine spirituelle Stimmung. Danach geht es den Rest des Albums heiß her. Mit traditionell anmutenden Melodien in den Songs fügen Soilwork ihrer Musik mystische und realitätsferne Elemente hinzu, Titel wie „Full Moon Shoals“ und „When the Universe Spoke“ sind hier äußerst deskriptiv.
Anspieltipps: Full Moon Shoals, Stålfågel, The Wolves are back in Town
– Anna
(Folk Metal, Humppa / NoiseArt 2019)
Es darf wieder im Vollsuff durch die skandinavische Wildnis gehüpft werden! Denn die Norweger TrollfesT beehren die rustikalen Hallen des Folk Metals auf ihrem mittlerweile achten Album erneut mit facettenreichen Klängen und tanzbaren Getöse. In der Manier von Genre-Kollegen Alestorm und Korpiklaani lädt der Klang der Kapelle zwar eher zum Feiern als Feinde verbrennen ein, dieses Mal allerdings mit einem (etwas) ernsteren Ansatz: Man hat sich für jeden der Titel eine norwegische Sage zur Brust genommen und passend vertont. Tatsächlich fällt die musikalische Umsetzung auch erfreulich abwechslungsreich aus. Bereits das Cover gibt Aufschluss über den Inhalt: Zwei Sagengestalten der skandinavischen Mythologie, ein Nøkken (zu Deutsch etwa mit dem Begriff ,,Nixe” übersetzbar) und der Fossegrim (ein Wassergeist, der die Violine schwingt), spielen zum Tanz auf. Die musizierenden Mischwesen bringen auf der Platte allerdings weitaus mehr als Folk-Standardkost: Die wundervollen Melodien, in Kombination mit den in Trollspråk (eine von den Musikern kreierte Kunstsprache, die Norwegisch und Deutsch durchmischt) verfassten Texten schicken einen auf eine kurzweilige Reise durch die skandinavische Mythologie.
Anspiel-Tipp: Småfolkets store bragder, Nøkken og Fossegrimen spiller opp til midnattstimen
– Gaps
(Pop Rap, Conscious Hip Hop / Normale 2019)
Nach der 2012er-Veröffentlichung ,,Altlasten‘‘ steht nun also die große Solo-Veröffentlichung ,,YPSILON‘‘ – interessanterweise ALL CAPS – ins Haus. Wer den Berliner Rapper Yassin hauptsächlich von seinen Kollaborationswerken mit Racheengel Audio88 kennt, wird sich zunächst vor den Kopf gestoßen fühlen. Besonders, wer noch dazu die 2017er Audio-EP ,,Sternzeichen Hass‘‘ gehört hat, und nach mehr Solo-Aggressivität giert. Wo ist der Hasse, wo ist der politische Kommentar? Es klingt hier nicht nach Herrengedecke oder Zugezogen Maskulin, es klingt eher nach Max Herre. Oder nach Curse, Casper, Post-,,Rebell ohne Grund‘‘-Pi, oder wie all die einfühlsamen Herrschaften heißen. Was nicht bedeutet, dass diese qualitativ minderwertig wären – alles hat seinen Platz in einem Genre das so vielfältig wie Hip Hop ist. Das Cover – das Gesicht des Rappers hinter einer Klarsichtfolie – schickt voraus, was einen hier erwartet: Yassin transparent, ganz ohne Fassade. ,,YPSILON‘‘ ist ein äußerst persönliches Album, es wir aus dem Nähkästchen geplaudert. ,,Haare grau‘‘ wird als Statusbericht vorangesetzt und gibt die Richtung für das Werk vor: ,,Yassin, Du hast Dich verändert / ja genau, ich bin nicht mehr der Gleiche‘‘; ,,Ich hoffe Opa wäre stolz auf mich‘‘. Was auf den ersten Blick oder ersten Hördurchgang eventuell etwas kitschig klingt, legt sich schnell. Eigentlich überraschend, mit wie wenig Kitsch ein so introspektives Album, wie ,,YPSILON‘‘ eines ist, durchgezogen wird. Klar, ganz ohne explizit politische Kommentare – etwa auf ,,Abendland‘‘ oder dem genialen ,,Eine Kugel‘‘ – kommt man 2019 nicht aus, besonders nicht Yassin, Adel verpflichtet nun mal. Doch geht es meistens um das Leben, sein ganz persönliches Leben. Ob Jugend (,,1985‘‘), Sucht (,,Junks‘‘) oder Perspektiven (,,Nie so‘‘), Ecke um Ecke wird Licht in die Dunkelheit, die Yassin repräsentiert, gebracht. Erfreulicherweise findet er allerdings seinen eigenen Weg, einen gefühlsbetontes Deutschrap-Werk zu schaffen, fernab von der Schnulzigkeit, die spätere Prinz Pi-Alben plagt, auch etwas distanziert zu dem Anti-Alles-Adoleszenz-Rap, der auf Caspers ,,XOXO‘‘ zelebriert wird. ,,YPSILON‘‘ stellt als etwas ruhigeres, doch niemals langatmiges oder anstrengendes Werk ein weiteren bemerkenswerten, und gleichzeitig überraschend erwachsenen Zusatz zu Yassins Gesamtwerk dar.
Anspiel-Tipp: 1985, Eine Kugel, Junks
– Gaps
The Drums – Body Chemistry
(Indie Pop, Post-Punk / Anti- 2019)
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Nach einer Promo-Tour zu der 2017er Veröffentlichung ,,Abysmal Thoughts” meldet sich Band-Mastermind Jonny Pierce von The Drums mit einem Titel zurück, der im starken Kontrast zu den Inhalten der letzen Platte steht. Die depressiven Texte und traurigen Instrumentationen wurden durch ätherische Klänge und warme Melodien ersetzt, und formen somit einen hedonistischen, schon beinahe narzisstisch anmutenden Song. Im Mittelpunkt stehen die Gefühle und Gedanken einer Person, der bereits einfache Interaktionen mit anderen Menschen zu anstrengend sind, die von Apathie überwältigt zu sein scheint, aber dafür jedoch einen tiefern Sinn verspürt. Ein wenig New Order und Sparks lässt sich leicht als Einfluss heraushören, allerdings verweilt der Titel am radiofreundlicheren Ende des Indie Pop-Spektrums, mit simplen Melodien und einigen Wiederholungen, die gegen Ende des Songs bereits etwas redundant werden. Nichtdestotrotz, ,,Body Chemistry” ist ein unterhaltsamer Track, der dazu einlädt, sich ein wenig gehen zu lassen und mit freudiger Erwartung dem nächsten The Drums-Album entgegenzufiebern.
– Reg
The Killers – Land of the Free
(Pop Rock, Piano Rock / Island 2019)
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Hätte vor der Veröffentlichung von ,,Land of the Free” jemand The Killers als politische Band bezeichnet, wäre das vermutlich ironisch passiert. Doch die neuveröffentlichte Single ist genau das, ein politisches Werk. Und das überrascht. Brandon Flowers letztes Werk, die ,,Wonderful Wonderful”-Platte aus 2017, war ein von Upbeat-Melodien und energetischen Schwingungen geprägtes Werk, ganz im Gegensatz zu den ernsten Thematiken, wie Immigration und rassistisch motivierte Gewalt, welche die neueste Veröffentlichung anspricht. Die Single klingt eher nach Flowers Solo-Werken (im Speziellen wie seine erste Veröffentlichung, ,,Flamingo”), welche mit Country- und Folk-Tönen daherkommt. Das überrascht wenig, da die restlichen Bandmitglieder – Dave Keuning und Mark Stoermer – scheinbar nicht am Erschaffen des Titels beteiligt waren. Das mag auch der Grund dafür sein, dass der Song hinsichtlich vieler Aspekte enttäuscht. Der Text ist weder subtil noch prägnant genug um zu provozieren; die Pianoklänge sind mehr klischeebehaftet als emotional, der Rest der Instrumentation ist auch kaum bemerkenswert. Alles in Allem schafft es der Song nicht, die wohl erwünschte Nachdenklichkeit beim Hörenden zu erzeugen, nicht einmal mit Gospel-Klängen durchsetzte Passagen können hier noch etwas retten. Vermutlich handelt es sich bei ,,Land of the Free” um etwas, was Flower unbedingt loswerden und sagen wollte – was seine Aussagen auch vermuten lassen – , allerdings überhaupt nicht mit seinem Publikum resoniert.
– Reg
Radiohead – Ill Wind
(Art Rock, Bossa nova / XL 2019)
SONG DER WOCHE
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Mit einem beinahe schon jazzigen Groove (Bossa nova lautet das Zauberwort) weht sich die neu Radiohead-Single (neu im Sinne von als Single veröffentlicht, das Stück existiert bereits seit 2016) bei hierzulande eisigen Temperaturen durch die winterliche Landschaft, ungewöhnte Töne für die britischen Art Rocker. Einzig das vertraute Jaulen des Sängers Thom Yorke lässt anfangs erkennen, welcher Band man denn hier überhaupt lauscht. Der Track beginnt ohne viel Umschweif oder Aufbau mit dem beständigen Rhythmus und dem typisch schrillen Yorke-Singsang. Das ändert sich nach knapp zwei Minuten, der Synthesizer nimmt in einer wunderbar natürlich fließenden, instrumentalen Passage überhand, und erinnert freundlich daran, dass man hier der vielleicht wichtigsten Rockband des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderst lauscht. Nach dem Synthie-Exzess geht es wieder zum gewöhnten, doch nun aufgewerteten, bereits ein wenig krautrockig anmutenden Groove zurück, unglaublich wie passend und natürlich sich die Weiterentwicklung der Instrumentation anfühlt. ,,A Moon Shaped Pool” ist jetzt auch schon wieder drei Jahre her, man darf gespannt bleiben
– Gaps
Aquaman (James Wan 2018)
Auf die Frage „Was kann man vom letzten DC Projekt erwarten?“ lautet die traurige Antwort: nicht viel. Zur Erklärung: nach dem Kassenschlager, der „Wonder Woman“ war, und den gemischten Kritiken zu „Justice League“ erweist sich ,,Aquaman” als ein unterhaltsames, aber seelenloses Projekt, welches nur wenige Neuheit bietet. Mit flachen Dialoge, unnötig langwierigen Schlägereien, einem nichtssagenden Bösewicht und einer gezwungene heterosexuelle Beziehung wird „Aquaman“ wohl schnell in Vergessenheit geraten. Im Hinblick auf Cape Movies hat DC, anders als der große Konkurrent Marvel, noch keine wirksame Film-Formel gefunden. Doch nicht alles ist katastrophal: Es gibt manche annehmbaren schauspielerische Leistungen (Willem Dafoe anyone?) und sämtliche bemerkenswerten Wasser-Sequenzen wissen in technischer Hinsicht zu überzeugen. Dennoch ist ,,Aquaman” nicht unbedingt der Film der Wahl, um eine anstrengenden Woche zu beschließen.
– Reg
Beautiful Boy (Felix Van Groeningen)
Der Drang eines Jugendlichen nach Lebendigkeit, nach dem Höhenflug und dem Füllen der inneren Seelenflecken.
Um das Stigma des obsessiven Drogenkonsums zu brechen, erzählt Regisseur Felix van Groeningen die wahre Geschichte eines methabhängigen Jugendlichen und die Beziehung zu seinem Vater, der sich selbst aufgibt, um seinen Sohn zu retten. Das Drehbuch basiert auf den Büchern von David Sheff (”beautiful boy”) und seinem Sohn Nicolas Sheff (”tweak”).
Als Nics Eltern sich in seiner Kindheit trennen, sucht Nic Halt in der Musik, dem Schreiben, sowie im Sport. Er ist erfolgreich, beliebt und hat Zusagen von einigen Colleges. Mit 16 trinkt er Alkohol, beginnt mit Marihuana und Kokain zu experimentieren und gerät schnell in ein unkontrollierbares Suchtverhalten. Die extrem starke Beziehung zu seinem Vater erfährt erste Brüche, Nic beginnt zu stehlen und verschwindet tagelang. Sein Vater David opfert sich selbst komplett auf, um ihn zu retten, ihn zu unterstützen und ihm einen Rückzugsort zu bieten. Jeder Rehabversuch endet in erneutem Konsum. Obwohl Nic weiß, dass er sich auf dem falschen Weg befindet, schafft er es nicht, sich selbst zu retten. David setzt alles daran um seinen intelligenten, abenteuerlustigen, kreativen Jungen wiederzubekommen.
Der Film fokussiert sich auf die Perspektive von David, gespielt von Steve Carell. Gegen Ende sieht man auch die brutale Realität von Nic, gespielt von Timotheé Chalamet. Dieser verkörpert den gebrochenen Charakter so real, dass man oft zu Atmen vergisst und einem die Tränen in die Augen steigen.
Im Gesamten zeichnet sich der Film einerseits durch unglaublich gute Schauspieler als auch die Beleuchtung der verschiedenen Beziehungen – David und Nic, Nic und seine Mutter, Nic und seine Brüder, David und seine Frau Vicky – aus.
Was bleibt ist die unendliche Liebe eines Vaters, dessen Sohn trotz allem sein ”Ein und Alles” bleibt, wie er ihm auch bei jedem Abschied ins Ohr flüstert.
Der Film holt den Zuseher komplett ab und nimmt ihn in den bestürzenden Abgrund des Drogenkonsums und dessen weitgreifende Auswirkungen mit und schließt mit der Einsicht ab, dass man niemanden retten kann.
”I didn’t cause it, I can’t control it, I can’t cure it”, sind die Worte, die in den letzten Minuten im Hintergrund über den Bildschirm tanzen.
– Teri