Podcast

2018 liegt in den letzten Zügen, die Wintersonnenwende ist vorbei, man ist im Neujahrsstress oder vor der Punschhütte. Wir haben unsere geschätzten FreundInnen und RedakteurInnen zusammengetrommelt, um das Jahr gemeinsam musikalisch Revue passieren zu lassen.

Teri, 23, Musik-Journalistin

2018 war ein Jahr des Wandels. Eine Reise in die unterschiedlichsten Länder und Städte. Eine Wieder- und Neuentdeckung, die sich in mir selbst, sowie in der Musik, die ich gehört habe und immer noch höre, wiederspiegelt. Einige meiner meistgehörten Lieder sind älter und schleichen sich immer wieder auf meine Playlists, aber diesen Beitrag möchte ich ausschließlich meinen Lieblingsreleases dieses Jahres widmen. Unter den folgenden fünf gibt es keinen Lieblingssong, denn sie sind alle meine Top 1. Den Startschuss macht niemand geringerer als der Multiinstrumentalist Drangsal, der dieses Jahr sein zweites Album „Zores“ veröffentlicht hat und auf diesem als Opener den Song „Eine Geschichte“ gepackt hat. Die Textzeile „Keine Gespenster, Sitzplatz am Fenster“ trifft eine ganz bestimmte Stelle in meinem Herzen. Ich bin dieses Jahr ganz oft am Fenster von Bussen, Flugzeugen oder Autos gesessen und bin in die Ferne gefahren oder geflogen, mit der Hoffnung meine inneren Gespenster hinter mir zu lassen. Dieser Song hat für mich eine unheimliche Kraft und man muss zugeben, dass deutsche Musik Max Gruber sehr gut zu Gesicht steht. Der Song „306“ vom Londoner Duo HONNE, hat mich mit seiner Leichtigkeit durch den Sommer getragen. Das ganze Album hat eine mitreißende Stimmung und sehr überlegte Texte, die zeigen, dass die Welt aus Licht und Schatten besteht. In den Schattenzeiten des Jahres stützte mich SOPHIE mit ihrem Song „It´s okay to cry“ und ich habe oft gespürt, dass das Leben nicht perfekt ist und es immer wieder Tiefschläge gibt. Es ist auch in Ordnung, dass man sich verloren fühlt und seiner Wut und Trauer freien Lauf lässt, wenn auch nur für die Länge des unfassbar guten dritten Refrains. Seit dem Konzert von The Hunna im Frühling dieses Jahres bin ich ein absoluter Fan der britischen Band. Sie haben es geschafft die Menge zu begeistern und mit gefühlvollen Texten Ohrwürmer zu hinterlassen. „NY to LA“ ist der Song, der mich seitdem überallhin begleitet, in jede neue Stadt, wo man in fremde Gesichter blickt, die dann zu Freunden werden. Dieser Song beschreibt für mich, dass Menschen mit denen du schöne Momente geteilt hast, oft weit weg wohnen und dass nur der Augenblick zählt und der jetzige Moment uns verbindet, weil die Zukunft ungewiss ist. Ein melancholischer Gute-Laune-Song, der mir oft Trost gespendet hat. Den Abschluss macht das Hip Hop/ Pop Trio Young Fathers, die dieses Jahr ihr Album „Cocoa Sugar“ veröffentlicht haben, auf dem „In my view“ mein Favorit ist. Rap und Gesang mit einem eingängigen Refrain und einem fantastischen Beat machen den Song tanzbar und sorgen dafür, dass man ihn in Dauerschleife hören möchte. Ein perfekter Song um das alte Jahr hinter sich zu lassen und mit frischem Wind in das Jahr 2019 einzutauchen.

Benni, 19, Der Prog-Boy

Dance Gavin Dance – Count Bassy

Der Maturastress konnte mich nicht daran hindern, Dance Gavin Dance’s neuestes Meisterwerk wenige Minuten nach Release akustisch zu verschlingen. Definitiv eine der besten 51 Minuten meines Lebens. Die “Artificial Selection” betitelte Platte schwang sich nicht nur mit graziler Gewalt empor an die Spitze meines persönlichen Alben-Ratings 2018, sie beherbergt auch meinen Song des Jahres. Die Vocal – Melodie des Refrains schmolz beim ersten Mal Hören dieses majestätischen Stückes mein Gehirn zu einem Knäuel aus musikalischer Ekstase und transportierte mich in eine Welt fernab von Mathematik und Heizungstechnik.

Iglooghost – Mei Mode

Von der ersten Sekunde bis zur letzten vermag es Iglooghost mit Sounds, geschliffen wie ein Katana, in die Neuronenstränge des Gehirns vorzudringen und seine Spuren zu hinterlassen. Mit dem Echo der Realisierung wie unkreativ und banal die allermeisten Electronica-Produzenten im Vergleich zu den unanfechtbaren Fähigkeiten dieses jungen Genies sind.

Clarence Clarity – W€ Chang£

Hochpräzise, unfassbar detaillierte Soundscapes, Vocals, gesungen in einem einzigartigen Style, beeindruckend kreatives Songwriting und eine extrem hohe Diversität an Sounds, ähnlich der von Iglooghost, ergeben den perfekten Hybrid aus bahnbrechendem künstlerischen Ausdruck und catchy Glitch Pop.

Daniel, 23, Delays Residential Sad Music Expert

2018 war für mich ein Jahr der Reflexion, des Wachstums und des Loslassens voller bereichernder Momente. Die musikalischen Releases des Jahres bildeten dazu einen Soundtrack, welcher diese Momente untermalte und emotional erweiterte. Einige dieser Augenblicke entstanden auf einer einmonatigen Vietnam Reise im September mit einer Gruppe von sehr engen Freunden. Die unzähligen Stunden, die wir in Bussen, Zügen, Flugzeugen, Taxis und auf Motorrädern verbrachten um durch die unglaublich diversen Landschaften dieses Landes zu reisen, waren stets untermalt durch die verschiedenen Klänge, die das Jahr zu bieten hatte. Ein klanglicher Ankerpunkt bot das kollaborative Projekt Big Red Machine von Bon Iver Master-Mind Justin Vernon und Aaron Dessner, dem zentralen Songwriter der Band „The National“. Besonders der Stand-out-track „Lyla“, welcher für mich ein Song des Staunens wurde und die Bereitschaft, mit offenem Herzen in eine Welt voller Wunder einzutauchen repräsentierte. Ein weiterer Song, der Tatendrang und Abenteuerwillen verkörperte, ist „Fake Lightning“ der Eröffnungs-Track des neuen Pianos Become The Teeth Album. Auch komplexe und emotional aufwühlende Momente brachte 2018 für mich. In diesen bot die traumhaft schöne Klavierballade „Chanson“ des kanadischen Pianisten Jean-Michel Blais Ruhe und Besinnlichkeit. Die triumphale Hymne des Überwindends dieser Tumulte formte SOPHIEs schimmernde Powerballade „It´s Okay To Cry“, ein Statement der Selbstliebe und ein Ja zum Leben, das auch mich beflügelte. Als die Luft kälter wurde, die Tage sich verkürzten und die Wiener November-Tristesse einsetzte, veröffentlichten Midwest-Emo Legenden Mineral nach fast 20 Jahren der Stille den emotionalen 8-Minuter “Aurora”. Dieser wurde für mich der Soundtrack der Reflexion für die Erlebnisse des Jahres. In einem Jahr voller Bewegung und Wandel bot Aurora einen schönen melancholischen Blick auf das emotionale Wachstum des Jahres und einen hoffnungsvollen Blick nach vorne.

Anna, 17, Melodic-Hardcore Sadgirl

EDEN – take care
What were you thinking? That night was a dream. At the top of your lungs, I hear you screaming, no sleep. And I know you don’t mean a thing, I just get lost in translation.

Take care ist nur  eines von den vielen tollen Liedern aus Edens neuem Album „vertigo“, es ist wunderschön ruhig und mitreißend kräftig zugleich und einfach begeisternd.

LA DISPUTE – Fulton Street I
All the memories your dreams retrieve. Pick a dress out for the funeral. Hold the vigil in the field, release.

„Rose Quarts“ und „Fulton Street I“ wurden gleichzeitig nach Tiny Dots (2016) gemeinsam mit einem wunderschönen Musikvideo veröffentlicht und fließen perfekt ineinander.

TASH SULTANA – Cigarettes
Why don’t we take a step closer to the edge my dear? Don’t you see my thoughts are drowning in the unclear?

„Cigarettes“ ist von Tash Sultanas Debut-Album, „Flow State“, welches sie dieses Jahr nach ihrer EP „Notion“ (2017) veröffentlichte und einer der Mitgründe, warum das Album der ideale Nachfolger für ihre EP wurde.

Reg, 23, Politwissenschaftlerin und frustrierte Filmemacherin

Als ich diese Liste zusammengestellt habe, hab ich mich darum bemüht, stets daran zu denken: Wie hat 2018 für mich geklungen? Welche erinnerungswürdige Musik hat dieses Jahr gebracht? Welche Projekte waren wichtig, entweder aufgrund ihres allgemeinen Beitrags zur Szene oder wegen der Themen, die sie mit ihrem Werk behandelt haben. Mit all diesen Rahmenbedingungen im Hinterkopf hab ich mich schlussendlich auf 10 Titel einigen können, welche meiner Meinung nach das Jahr 2018 in Texten, mit Instrumentationen oder durch Genre-Fortschritt eingefangen konnten.

Drangsal – Magst du mich (oder magst du bloß noch dein altes Bild von mir)
keine Finger mehr zum Krümmen da / und keine Hand wäscht die andere, ja // gibt es denn schlimmere Sale als mein Schick- oder die Drang-?

Drangsal versorgt uns mit ,,Magst du mich” textlich mit einer grandiosen Single (das Album ist nicht weniger eindrucksvoll), welche wohl die Hauptsorge des Liebens anspricht – wer sich verliebt, kann sich auch entlieben. Die eingängige Melodie – welche denen aus der Blütezeit des Synthpops in den 80er in nichts nachsteht – stellt sicher, dass der/die HörerIn wieder und wieder auf den Songs zurückgreifen wird. Der Titel könnte ohne weiteres auf einem Album der Gloom-Giganten The Cure unterkommen, die augenscheinlich fröhliche Instrumentation und sanfte Stimme lassen einen beinahe vergessen, dass hier schonungslos das idealisierte Bild eines/einer Geliebten zerschmettert und die grausame Ungewissheit, die Veränderung mit sich bringt, besungen wird. Dr. Angsal gelingt hier etwas, was den meisten kontemporären Genre-Kollegen verwehrt bleibt: Einen Song (ein ganzes Album sogar!) zu schaffen, welcher selbst bei wiederholtem Hören wie neu wirkt.

Birds in Row – Love is Political
you destroy the leash / to make it a chain

Wenn 2018 irgendeine Lehre hinterlassen hat, dann die, dass ALLES politisch ist – oder zumindest ohne weiteres in einen politischen Kontext gesetzt werden kann. Gerade deshalb erscheint mir der Titel der französischen Gruppe Birds in Row so angebracht für diesen Countdown. Der Song präsentiert sich emotional geladen, mit solche einer rohen, ungefilterten Energie und Leidenschaft, dass man beinahe vermuten möchte, die Vocals werden erst im exakten Moment in dem sie ins Ohr dringen zum ersten Mal aufgenommen. ,,Love is Political” schafft es, eine vergebliche Anstrengung in Kunst zu konvertieren. Denn, selbst wenn man davon ausgehen möchte, dass im abstrakten Umfeld der Liebe auch unweigerlich ein Kräftereiben und eine Hierarchisierung zwischen den Partnern vorhanden ist, heißt das noch langen nicht, dass die kraftvollste aller Emotionen deshalb auch nur im Geringsten redundant wäre. Die verzerrten Gitarren und das chaotische Schlagwerk tragen ihr Übriges dazu bei, das Gefühl der Rücksichtslosigkeit, welches dieser ganze Titel vermittelt, noch zu verstärken, was ,,Love is Political” zu einem der energiegeladensten Titel dieses Jahres macht.

Shame – The Lick
bathe me in blood and call it a christening

Obwohl der Titel bereits 2017 als Single veröffentlicht wurde, war er auch Teil des 2018 erschienen Debüt-Albums der britischen Post-Punk Band Shame, und qualifiziert sich somit verdienterweise für diese Liste. Die zunächst im Vordergrund stehenden Spoken Word-Passagen gehen schnell in aggressive Lead-Vocals über, welche von den für den Post-Punk typischen, tiefen Bass-Tönen begleiten werden. Diese Mischung ist mehr als genug, um einen erinnerungswürdigen Titel mit Ohrwurm-Potential zu schaffen, ohne dabei auf Songwriting-Qualitäten zu verzichten. Mit solchen Songs beweist Shame dass 2018 das Zeug dazu hatte, Musik zu schaffen, welche nicht nur ,,relatable but also debatable” ist.

Kanye West – Ghost Town
I put my hand on a stove, to see if I still bleed

2018 war ohne Zweifel ein äußerst produktives Jahr für Hip Hop. Veröffentlichungen von Genre-Größen wie Travis Scott, Kanye West (mit ganzen fünf! Projekten, zusätzlich eines weiteren angekündigtem Albums, ,,Yhandi”, welches allerdings bislang missing in action ist) und Earl Sweatshirt sind nur einige der erwähnungswürdigen Werke. Schon alleine deshalb verdient diese Liste auch eine Nennung aus dem Hip Hop. Der Titel ,,Ghost Town”, zu finden auf einer der umstrittensten Veröffentlichungen des Jahres, beweist, dass der Chicagoer MC Kanye West nachwievor verlässlicher Diskussionsanlass ist. Die verträumte Sound-Qualität dieser aufwändigen Kollaboration schmeichelt den nostalgischen Textzeilen und der besonders im Refrain aufkommenden Gospel-Atmosphäre, welche unweigerlich an Kanyes Frühwerk erinnern. Hier wird mit nostalgischen Bedürfnissen nach einem ,,old Kanye” gespielt, und bei diesem Spiel trifft der Song direkt ins Schwarze. Und verdammt noch mal, schlägt er da tiefe Wunden. Zusätzlich zu alldem bietet der viereinhalbminütige Titel genug Variation, um durchwegs interessant und spannend zu bleiben, und erinnert uns damit auf eine besondere Art und Weise, dass der Geist, der ,,My Beautiful Dark Twisted Fantasy” (2010) beseelt hat, noch immer vorhanden und äußerst lebendig ist.

Lucy Dacus – Body to Flame
didn’t mean to empty your perfect body / and fill it with my passing will

An dieser Stelle ein Titel von der wahrscheinlich interessantesten Singer/Songwriterin des Jahres, Lucy Dacus. Die US-Amerikanerin präsentiert uns einen sanften und nahegehenden Titel, welcher es schafft, alle Klischees zu vermeiden und dennoch ein Gefühl von Intimität und Persönlichkeit zu behalten. ,,Body to Flames” fühlt sich an, als würde man in das Tagebuch einer anderen Person blicken, nur um herauszufinden, das der Freund/die Freundin gerade eine sehr schwere Zeit durchmacht. Jacob Blizards Streicher tragen ihr übriges dazu bei, um den Hörer/die Hörerin aus der einfachen Position des Zusehers hinaus zu einem Teilnehmer werden zu lassen, zu einem Menschen, der den Schmerz und die besorgte Zärtlichkeit mit der Songwriterin teilt. Lucy Dacus zeigt uns mit diesem Titel, was alles 2018 im Singer/Songwriter-Gerne erlaubt sein kann und sollte.

Death Grips – Black Paint
I don’t have enough power

Ein weiterer Titel aus einer großartigen Hip Hop-Veröffentlichung. ,,Black Paint” lässt sich wie eine der grundlegenden Eigenschaften des Jahres 2018 beschreiben: Ein ständiges Abmühen. Der Titel fühlt sich noch organischer und roher als der Rest der fantastischen ,,Year Of The Snitch”-Platte an, mit all den Verzerr-Effekten, den unüberhörbaren Drums sowie den in typischer MC Ride Manier ins Micro geknurrten Vocals. Ein Track, der von hinten bis vorne Death Grips schreit, und das obwohl elektronische Elemente nicht unbedingt so stark wie in anderen Werken des Hip Hop-Trios im Vordergrund stehen. Trotz der fehlenden Bleeps & Bloops ist der Titel ebenso harsch wie einige der bekanntesten Singles der Gruppe. Ausgewählt aus einem Album, in dem beinahe jeder Song Single-Material sein könnte, schafft es ,,Black Pain” mit all seiner Aggressivität, die für diese Spielart des Experimental / Industrial Hip Hops typisch ist, herauszustehen, ohne dabei auf Ernsthaftigkeit zu verzichten.

Gerard Way – Baby you’re a Haunted House
in the dark we laugh together / ‘cause the misery’s funny to you

Als eine der spaßigsten Singles dieses Jahr veröffentlicht der ehemalige MCR-Frontmann Gerard Way ,,Baby you’re a Haunted House”, einen Titel, der für Halloween gedacht ist – selbst das begleitende Musik-Video zeigt eine knochige Begleitband. Der Songs ist nicht mehr und nicht weniger als ein wahnsinniger Ohrwurm, ausgestattet mit recht einfachen Textzeilen, die dennoch komplexe Emotionen ansprechen. So wird hier von der Herausforderung erzählt, jemanden aufrichtig zu lieben, den persönlichen inneren Dämonen zum Trotz. ,,Baby you’re a Haunted House” ist ein unbeschwerter Song, der mit Hilfe von dezent kitschigen Retro-Gitarren und einfachen Melodien eine gemütliche, tanzbare Atmosphäre schafft, perfekt für ein Jahr, in dem Aufmunterung bitter nötig war.

Judas Priest – Evil Never Dies
beware there’s voodoo in the night / the devil’s got you in his sight

Wie schon die Textzeile ,,the devil’s moved from Georgia / his mission’s still the same” vorausschickt, kehren Judas Priest 2018 aus einer längeren Auszeit zurück, um einer verschlafenen Heavy Metal-Szene Mund-zu-Mund Beatmung zu spendieren. Die Energie, mit der das geschieht, ist förmlich spürbar, von den harten Öffnungs-Riffs bis hin zu den wundervollen Drums im Refrain. Zusätzlich trägt Halfords Stimme ihr übriges dazu bei, einen gewöhnlichen Metal-Track in einen äußerst eingängig-prägnantes Werk zu verwandeln. Ein Titel, der bei dem/der HörerIn noch lange nach der letzten Note weiterklingt, und somit ein wichtiger Bestandteil meines persönlichen Soundtracks für 2018 wird.

Thought Gang – Logic and Common Sense
space pioneers seek revenge

Auf die eine oder andere Weise war 2018 doch recht verwirrend, und sollte es jemanden geben, der das Gefühl von Verwirrung auch tatsächlich erfassen und wiedergeben kann, ist das Multi-Talent David Lynch. In dem jüngst veröffentlichten Projekt mit Angelo Badalamenti offeriert der Regisseur eine wundervolle Sammlung diverser Avant-Garde Jazz Titel, aus denen besonders ,,Logic and Common Sense” heraussticht. Besonders auffällig ist die chaotische Aufmachung des Titels, recht ähnlich den Bildern, die Lynch üblicherweise auf der Leinwand erschafft. Ein unberechenbares Saxophon tönt über die von Lynch irrwitzig gespielten Percussions, alles trägt den/die HörerIn auf einen verrückt machenden und dennoch kaum zu erwartenden Höhepunkt hin, ein Climax, der alles andere repräsentiert, alles außer logic und common sense. Der Titel ist unzweifelhaft eine wunderbare Wahl, um sich zu seinen Klängen dem unentrinnbaren Vergehen der Zeit hinzugeben.

Spellling– Haunted Water

2018 hatte auf jeden Fall einen deutlichen Pop-Einschlag, mit einem Haufen interessanter Releases aus diesem Genre. Ich rede aber nicht von irgendeiner Pop-Spielart, sondern über Art Pop, einem Zusatz, dem Spelling locker gerecht wird. Mit einer stimmlichen Darbietung, die an Siouxsie Sioux erinnert, fällt es schwer, nicht in der Synthesizer-lastigen Welt von Spelling verlorenzugehen. Eine Welt, die zwar ständig von einem ominösen, nicht näher bestimmbaren Grauen umweht wird, der man aber dennoch nicht zwangsläufig entkommen will. Zusätzlich dazu soll erwähnt werden, dass die verträumte Atmosphäre, die hier dank Tias einzigartigen Stimme erschaffen wird, leicht an die erinnerungswürdigsten Titel von Portishead erinnert. ,,Haunted Water” ist ein packender und persönlicher Song, und damit so viel mehr als einfach ein gewöhnlicher Pop-Hit.

übersetzt aus dem Englischen von Gabriel Niederberger

*Honorable Mentions*

*She/Her/hers – I’m not supposed to be anything

*Kero Kero Bonito – Only Acting

*Cuntroaches – Short Fuse

Gaps, 22, Musik-Journalist

Drangsal – Magst Du Mich
gibt es denn schlimmere Sale als mein Schick- oder die Drang-?

Drangsal, mein lieber Drangsal! Ein Künstler, der mir das erste Mal 2017 über den Weg gelaufen ist. Nachdem meine ersten Gehversuche mit ,,Der Ingrimm”, ein Titel, der mir damals von einer Freundin empfohlen wurde, gescheitert ist, gammelte der werte Herr Doktor erst eine Zeit lang auf meiner To-Listen Liste herum. Bis ich dann endlich meine Freude an Post-Punk und Artverwandtem entdeckt hatte, und ich auf den deutschen Sänger mit Hang zur 80er-Nostalgie zurückfand. Dann machte es endlich ,,Klick”, und das 2016er-Album ,,Harieschaim” lief eine Zeit lang rauf und runter. Ich fühlte mich verstanden, Max Gruber war anscheinend ein ebenso großer Fan von Depeche Mode, Ian Curtis und Mozzy wie ich, wäre ich dazu fähig, Musik zu machen, würde sie wohl so ähnlich klingen wie das 2016er Debüt-Album. Seine Einflüsse hat Drangsal damals sicher nicht versteckt. Fast forward zum Jahre 2018, ein neues Album steht vor der Tür, ich freu mich, bestelle vor, und höre natürlich am Erscheinungstag. Ergebnis: Erwartungen übertroffen. So schön, so ganz wunderbar ist es, hier bei den Geschichten zwischen Liebe und Hoffnung, Schmerz und Verzweiflung zuzuhören. Schon beim ersten Durchgang hat sich hier ,,Magst du mich” in meinem Gehörgang festgesetzt. Die lyrische Eleganz, mit der hier die persönliche Demontage, die gemeinhin als verliebt sein bezeichnet wird, sucht ihresgleichen. Und der Refrain zerreißt einem das junge Herz, doppelt und dreifach. Manchmal ist das Schick schlimmer als die Drang.

KIDS SEE GHOSTS – Feel The Love
gararararara

Nachdem ,,Ye” mich bei der Veröffentlichung nicht unbedingt vom „Throne“ geworfen hat (mittlerweile hab ich die Qualitäten das Albums durchaus erkannt), fieberte ich natürlich ungeduldig den weiteren Projekten aus dem Hause West entgegen. ,,Daytona” war überaus geglückt, aber eben nicht so ganz kanyefiziert. KIDS SEE GHOSTS übertraft dann alle Erwartungen. Man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man dem Titel dadaistische Qualitäten zusprechen möchte. Das Pusha T Feature ist passend, Kid Cudis ,,I can still feel the love”-Gesinge brennt sich in den Gehörgang, die finalen Sprachfetzen sind wohl mit dem Sprachbaukasten eines Yung Hurn zu vergleichen, nur wesentlich konsequenter. Hier fühlt und hört man einen Menschen, der zumindest in diesem einen Moment der Aufnahme von allen Ängsten, Zwängen und Sorgen befreit war (von denen Mr. West 2018 bekanntlich MEHR als genug hatte), und einfach mit Freuden herausgeschrien hat, was ihm als Erstes in den Sinn gekommen ist – auch wenn das nur Kauderwelsch sein mag. Ein großartiger Titel, der es scheinbar schafft,  Freude am Schaffen und Spontanität auf Tonspuren einfängt

Ghost – See The Light
many a sin I have witnessed / and in many indeed I have been

Den Lieblingstitel aus dem persönlichen Lieblingsalbum des Jahres zu wählen, ist verdammt noch mal schwierig. ,,See The Light” steht an dieser Stelle, da es die Gegensätze von ,,Perquelle” recht gut einfängt, möglicherweise sogar die Gegensätze des gesamten Ghost-Projekts. Einerseits ruhige Piano-Balladen, stimmige Melodien, okkultes Gesäusel von Cardi C – und dann kommt der Refrain. Fetzige Ghoul-Riffs, rollende Copia-Rs, stampfende Drums, all hell breaks lose. Dann wieder brav zur ruhigeren, doch jetzt bereits merklich kraftvoller untermalten Strophe. Dann wieder Refrain, Solo, Refrain ad infinitum, nicht unbedingt die kreativste Song-Struktur, aber wir sind ja hier nicht bei Dream Theater, sondern bei ABBA feat. Mercyful Fate. Il medioevo comincia ora!

Grimes – We Appreciate Power
and if you long to never die / baby, plug in, upload your mind

Nu Metal is dead, long live Nu Metal! Oder eher Manson ca. 2005. Was die Kanadierin Claire Boucher hier präsentiert, hat sich schon in der metalhaltigen Kollaboration mit der Internetpersönlichkeit Poppy auf ,,Play Destroy” angekündig. Auf ,,We Appreciate Power” zieht Grimes, unterstützt von der US-Amerikanerin Hana Pestle aka HANA, härtere Seiten auf. Seltsamerweise erinnert der Titel ein wenig an die schlimmste Periode der Populärmusik, an die gefürchteten 2000er, vermutlich ist die Schuld an den leicht angestaubt klingenden Gitarren festzumachen. Doch Nostalgie hin oder her, der sich knapp über fünf Minuten streckende Titel bringt ein atemloses Tempo, einen tanzbaren Beat und dystopische Textzeilen über die Redundanz der menschlichen Existenz. Auch sollten die grandiosen Synth-Klänge erwähnt werden, welche dem Song einen wahnsinnig hohen Replay-Wert verschaffen. Es bleibt zu hoffen, dass das hoffentlich 2019 kommende Grimes-Album Nummer Fünf ähnliche klangliche Dimensionen aufweist.

Marsimoto – Samstag der 14te
wenn ich zur Blair Witch will, muss ich bei Blocksberg klingeln

Statement in eigener Sache gleich am Anfang: Marsimoto ist um Längen hörbarer als Marteria. Umso erfreulicher, dass der Green Goblin des Deutsch-Raps 2018 eine neue Platte rollt, die leicht eines der besten Werke ist, die der deutschsprachige Hip Hop 2018 zu bieten hat. Der Titeltrack ,,Samstag der 14te” verlangt bestimmt eine gewisse Vorliebe für Gruselfilme, um auch voll und ganz gewürdigt werden zu können. Persönlich habe ich die meisten Titel, die hier genamedropped werden, gesehen, und bin deshalb umso begeisterter, wenn Marsi hier nach Lust und Laune die grässlichen Fratzen der Horrorgestalten plötzlich ganz handzahm erscheinen lässt. Pennywise vor’m Penny Markt, Urlaub mit den Gremlins, eine freundschaftliche Beziehung zu Samara, dieser Spuk ist also vorbei. Selbstverständlich verdient natürlich auch der gutaussehende Unbekannte, der den Refrain beisteuert, eine Erwähnung, ich bin ganz beGEISTert.

MGMT – Little Dark Age
the image of the dead / dead ends in my mind

Klar ist der Titel bereits 2017 erschienen, das dazugehörige Album stammt allerdings aus 2018, demnach bewege ich mich hier noch im Bereich der Legalität. Wenn doch nur alle Songs auf ,,Little Dark Age” so düster wären wie der Titeltrack. Das Album ist hervorragend, das namensgebende Musikstück allerdings noch eine ganz andere Liga. Schreckliche Geheimnisse haben wir allesamt genug, egal, ob es sich um die Anzahl der Benützungen handelt, bevor zu einem frischen Paar Socken gegriffen wird oder um die furchtbare Angewohnheit, in der U-Bahn hier und da mal zur Gratis-Zeitung zu greifen.
Diese Scham und de förmlichen Horror vor solchen tief vergrabenen Ereignissen und Eigenschaften besingt das New Yorker Synth-Duo mit unheimlicher Treffsicherheit. Die simple Melodie stellt dann sicher, dass der Titel auch noch lange nach der Schandtat durch die Abgründe der eigenen Schuld hallt.

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(c) Gabriel Niederberger 2018

Sigrid Horn – Kassandra
auf de Bama huckn scho de grauen Gspensta

Ein einziges Konzert hat genügt, um mich zu begeistern. Wenig deutsche LiederschreiberInnen haben ein ähnliches Gespür und eine vergleichbare Treffsicherheit für Texte wie die Wiener Künstlerin Sigrid Horn. Die Intimität und Konsequenz, mit der in ,,Kassandra” die Geschichte des Auseinanderbrechens zweier Menschen geschildert wird, einzig von einem Klavier begleitet, beansprucht den ganzen Raum für sich. Zwar ist der Titel nicht laut oder wuchtig, ganz im Gegenteil. Doch wie beißende Kälte gräbt sich das Werk unvermeidbar in den Verstand ein und hinterlässt die Sicherheit der Unvermeidbarkeit von Veränderung, die unweigerlich Ungewissheit und Angst mit sich bringt. Sicherlich der erschütterndste Titel des Jahres für mich.

Fotos sind von der Albumreleaseshow 13.09.2018 ©2018 Michael Kendlbacher

Fotos sind von der Albumreleaseshow 13.09.2018 ©2018 Michael Kendlbacher

Sir Tralala – Stirb Langsam
wenn du tot bist / dann werd ich / gar nichts von dir erben

Der exakt sechs Minuten lange Titel des Wiener Avant-Garde-Exzentrikers David Hebenstreit entführt an einen Ort, an dem es immer neblig ist, egal ob wegen der Jahreszeit oder der Verschmutzung. Eine Kinderstimme, die eine makabere Variante des wohlbekannten ,,Frère Jacques” von sich gibt, klingt durch Krähengeschrei und Glockenklang, die ersten Klaviertasten werden angeschlagen. Trommelklänge, Sitar und Streicher mischen sich zu dem nicht entkommbaren Piano-Klang, im weiteren Verlauf des Titels tauchen auch harte Elektro-Parts auf. Erst nach knapp zwei Minuten hört man dann den Sir durch die Boxen tönen, es geht um Verderben, Korruption, Überdruss. Wie gewohnt begeistert die stimmliche Leistung, ein voller Klang trägt durch die verwinkelte Instrumentation, stellenweise wird gelacht und geschrien. Nachdem die sechs Minuten um sind, fragt man sich, was gerade passiert ist. 2018 hat wenig vergleichbare klangliche Ereignisse.

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(c) Gabriel Niederberger 2018

SOLD – Bagger Böse
your cellphone doesn’t know the answer, huh / and neither does your chancellor

Zwar ist die Wiener Band SOLD noch ganz neu im Rennen, dies soll der Erwähnung zwischen Kalibern wie Grimes und Kanye West jedoch keinen Abbruch tun. Und das obwohl der Track gerade mal als Demo-Track auf YouTube verfügbar ist.
Im Laufe von 2018 hatte ich das Vergnügen, die Live-Kapazitäten des Quartetts mehrfach zu begutachten – mehr dazu im Top Konzerte 2018 Artikel. Vorab soll allerdings noch mein absoluter Song-Favorit der Grunge Punks seinen verdienten Platz im Schlaglicht erhalten.
Das wundervoll kratzige Stimme der Sängerin und Rhythmus-Gitarristin Ella Kramer führt durch den gerade mal knapp zweiminütigen Titel. Besungen wird Polit-Unzufriedenheit, Ohnmachtgefühle der Unterdrückten – selbst Kanzler Kurz findet subtil Eingang in die Textzeilen. Der Refrain bleibt im Ohr wie Kaugummi im Haar, die Stimmeskapaden der Frontfrau erinnern an Nina Hagen oder Lzzy Hale. Es bleibt zu hoffen, dass der Track für ein eventuell 2019 erscheinendes Debüt-Album der Wienerinnen mitgenommen, vielleicht noch etwas ausgefeilt und verlängert wird. Der Charme und die Durchschlagskraft der Nummer, selbst als rohe 2-Minuten-Wutrock-Demo, ist jedoch unbestreitbar.

Tierra Whack – Cable Guy
we was supposed to be friends, he was my homie / he was there when I was lonely, hungry / now he seems phony

Der kürzeste Titel meiner Liste kommt von der US-amerikanischen Rapperin Tierra Whack. So wie alle Songs auf ihrem Debüt-Album ist auch ,,Cable Guy” auf die Sekunde genau eine Minute lang. Was in dieser Minute alles verpackt wird, ist unerhört. Ein wahnsinnig eingängiger Refrain, eine Geschichte über enttäuschte Erwartungen und vorgespielte Freundschaft sowie eine wirklich charismatische Vocal Performance. Es bleibt zu hoffen, dass 2019 noch viel mehr Tierra Whack mit sich bringt.

Honerable Mentions /Außer Konkurrenz

*Charlotte Gainsbourg – Runaway – Kanye West Cover
let’s have a toast for the douchebags / let’s have a toast for the assholes

*Judas Priest – Evil Never Dies
the devil’s moved from Georgia / his mission’s still the same

*Lucifer – Dancing With Mr. D – The Rolling Stones Cover
The air smells sweet, the air smells sick

*Till Lindemann (feat. Haftbefehl) – Mathematik
fick sie richtig

*Weezer – Africa – Toto Cover
I seek to cure what’s deep inside

Playlist Link: