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Richtig Angst könnte er einem machen, dieser Löwe mit den weitaufgerissenen Augen, den riesigen Zähnen und dem blutüberströmten Zebra unter seinen Pranken. Wäre er nicht längst an Altersschwäche gestorben und das Zebra am Tränengas erstickt.

In Qalqilya gibt es nichts zu tun – und Ramallah ist teuer

Ich komme gegen Mittag mit einem Sammeltaxi von Ramallah in Qalqilya an und bin der einzige, der hier aussteigt, die anderen fahren weiter ins benachbarte Tulkarm. Es ist still in dieser Stadt im Nordwesten der Westbank, und es ist heiß hier, sehr heiß. Aber ich will unbedingt in diesen Zoo, von dem so Ungeheuerliches zu lesen ist, ich will es mit eigenen Augen sehen.

“Du willst was?”, scheint mich Samad zu fragen. Er arbeitet in einem Elektrogeschäft im Zentrum der Stadt und spricht kein Englisch. Und bevor ich mich, mit allem Drum und Dran, zum Affen mache, kommt diesem Mann die zündende Idee: der Googletranslator. Also kritzle ich „ZOO“ in mein Notizbuch, er tippt das Wort in sein Handy und weiß sofort Bescheid.

Wenig später schlendere ich mit Samads Bruder an den Stadtrand, er zeigt mir den Weg. Amir ist der ältere der beiden, er ist um die Dreißig und arbeitet in Nablus, am liebsten wäre er im coolen Ramallah, aber Ramallah ist teuer. Hier in Qalqilya, so Amir, gibt es jedenfalls nichts mehr zu tun. Die Mauer habe alles kaputt gemacht. Die Bauern kämen nicht mehr auf ihre Felder, der Markt sei eingebrochen, die Fabriken hätten ihre Kunden verloren und ganze Familien seien auseinandergerissen worden. „Damals haben sie uns zerstört. Sie nahmen uns die Luft zum Atmen.“

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Eine Mauer rundherum: nur so zur Sicherheit

Sie, das sind die Israelis. Und damals war 2003. Es ist die Zeit der Al-Aqsa Intifada, des zweiten Aufstandes der Palästinenser gegen die israelische Besatzung. Doch dieses Mal fliegen nicht nur Steine, jetzt explodieren Bomben. Die Israelis blockieren im Gegenzug palästinensische Städte und greifen Flüchtlingslager an. Und sie beginnen mit einem millionenteuren Unterfangen, das Jitzchak Rabin, der damalige Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger, schon in den 1990er Jahren im Sinn hatte: eine gewaltige Sperranlage, die das „Kernland“ Israel von der Westbank trennen soll. Natürlich nur zur Sicherheit: „Große Mauern schaffen gute Nachbarn“.

Qalqilya trifft es besonders hart. Die Stadt liegt an der „Grünen Linie“, der so genannten Waffenstillstandslinie von Israel. Und obwohl sie nach „Oslo II“-Verträgen von 1995 zur Zone A gehört und also von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert wird, marschiert das israelische Militär während der Zweiten Intifada in die Stadt ein. Und lässt sie – bis auf eine Zufahrt im Osten – vollständig einmauern. Meterhoch ragen die Betonwände in die Höhe, sie stehen heute noch. Und verleihen der Stadt etwas durch und durch Gespenstiges.

Später werde ich erfahren, dass die israelische Regierung beim Mauerbau die nach dem Sechstagekrieg 1967 beschlossene Grenze – diese „Grüne Linie“ eben – bewusst ignorierten. Von 6000 Hektaren ist die Rede, die so verloren gingen, das ist die Hälfte des Landes, das die Bauern von Qalqilia einst bewirtschafteten. Doch das ist lange her. Inzwischen hat Qalqilia mit seinen fast 50.000 Einwohnern die meisten Arbeitslosen in der ganzen Westbank. “Gab es keine Proteste?”, frage ich Amir. Er winkt müde ab: “Doch, es gab viele Proteste”.

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In der Grotte des Grauens

Wir sind da, stehen vor dem Eingang mit dem Plakat „Qalqilia Park Zoo“, samt Löwenemblem. Eröffnet anno 1986, damals wie heute der einzige Tierpark in der Westbank. Amir drückt mir die Hand, ich solle später im Geschäft seines Bruders vorbeikommen, dann trinken wir Tee. Und ich müsse unbedingt nach dem Tierarzt fragen – welch ein Künstler das sei!

Aber Dr. Sami Khader ist heute nicht da. Dafür kommen mir drei Tierpfleger entgegen, sie freuen sich über den Besuch. Der eine bietet mir einen Rundgang an, wir durchqueren im Zack die Zooanlage, die gut zur Hälfte aus einem Lunapark besteht, aus einem Restaurant, einer Picknickanlage, einem Planschbecken für die Jugend. Und gelangen zu einem halben Dutzend Lehmhütten: Welcome my friend in Qalqilias Naturkundemuseum, für eine Handvoll extra Schekel gibt es hier Bildung der aparten Sorte! Sagt mein Begleiter (der mir, übrigens, seinen Namen nicht verraten will, weswegen er ab jetzt Saad heißen soll) und strahlt.

Und so trete ich ein in die Grotte des Grauens.

Im roten, blauen, grünen, orangenen Neonlicht hängen hier Tierköpfe aller Gattung von den Wänden herab.  Affen hocken stummkreischend auf Ästen, Bären tanzen auf der Stelle und Pelikane kleben in der Luft. Und dann, mitten drin, dieser Löwe mit den weitaufgerissenen Augen, den riesigen Zähnen und seinen Pranken über dem blutüberströmten Zebra.

Es ist das Werk von Dr. Sami Khader. An die 100 Tiere hat er eigenhändig ausgestopft – mit Ach und Krach. Und so dem Krieg getrotzt. Oder, wie Saad meint, aus der Not eine Tugend gemacht.

Denn damals, im Jahr 2003, werfen palästinensische Jugendliche von einer Schule hinterm Zoo Steine auf die israelischen Militärs. Die fackeln nicht lange und schießen zurück: mit Gewehren, Granaten, Gummischrot und Tränengas. Ein Junge wird vor dem Eingang des Zoos von einer Kugel getroffen und auch die Tiere erschrecken zu Tode. Einige werden erschossen, andere erkranken oder verhungern, die meisten – wie das Zebra unter den Pranken des Löwen – ersticken qualvoll am Tränengas.

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Nachschub vom Feind

Vor diesen schlimmen Zeiten, sagt Saad, wollte das ganze Westjordanland in den Zoo von Qalqilia. Von überallher seien die Schüler in Bussen angereist, von Jenin, von Nablus, von Ramallah, von Hebron sogar. Doch dann war Flaute. Bis der Tierarzt Dr. Khader auf die Idee mit dem Naturkundemuseum kommt. Und er anfängt, seine „Kriegsopfer“ der Zweiten Intifada eins ums andere auszunehmen, um sie dann mit Schaumstoff, Holzwolle, Gips und Draht vollzustopfen und am Ende fürchterlich zu inszenieren. Eine Attraktion, kein Zweifel. Auch Saad meint: Da ging es wieder bergauf mit Qalqilias Zoo.

Übrigens gibt es hier nicht nur ausgestopfte Tiere zu sehen, sondern auch mehr oder weniger lebendige: ein Flusspferd zum Beispiel oder ein Bär, jede Menge Affen, große und kleine Schildkröten, Schlangen, Füchse, Rehe, Kaninchen und Hühner. Und natürlich Löwen und Zebras. Denn ohne sie ist kein Zoo ein Zoo.

Das wussten auch die Israelis, als sie gegen Ende der Zweiten Intifada aus dem Ramat Gan Safari Park bei Tel Aviv ein paar Löwen und Zebras nach Qalqilia brachten. Als Wiedergutmachung, sozusagen.

Links

Die Zweite Intifada und der Bau der Barriere (Martin Schäuble & Noah Flug, Bundesamt für politische Bildung, 2008)

Zwischen Oslo und Al-Aksa-Intifada (Abdul-Rahman Alawi, Bundesamt für politische Bildung, 2002)