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Bei all der großartigen Musik, die 2018 erschienen ist, scheint eine Auswahl von gerade mal 25 Werken unzureichend. Selbst eine Liste mit 500 Einträgen würde sicherlich nicht alle hörenswerten Platten des Jahres abdecken. Für einen groben musikalischen Überblick auf das facettenreiche Jahr 2018 möchte aber dieses Best-Of stehen. Wir haben hierbei versucht, ein möglichst breites Spektrum an Genres und Spielarten anzusprechen, ohne die Qualität und Relevanz der genannten Alben aus den Augen zu verlieren. Selbstverständlich war der letzte ausschlaggebende Faktor persönliche Vorliebe.
Delay Magazine präsentiert hiermit: Die Besten Alben 2018

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  1. Anenon – Tongue
    Post-Minimalism / Ambient | FoF

Auf seinem 4. Long-Player „Tounge“ kreiert Ambient Klangkünstler Brian Allen Simon eine naturbezogene Sound-Welt der Vergänglichkeit. Hier verbindet sich die akustische Wärme von Saxophon und Klavier mit synthetischen Klängen, sowie lebhaften Field-Recordings zu einem schillernden Gesamtkunstwert manifestierten Äthers. Kontemplative Ruhe vermischt sich hier mit Windstößen klanglicher Experimente. So formt Anenon eine Welt in welcher der Hörer einen Raum findet, seine Gedanken zu erkunden und auszuformen.

Anspiel-Tipp: Einfach das Album starten und entspannen.

 

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  1. Gnoll – The Citadel of Evil
    Dungeon Synth | HDK

Dungeon Synth ist nicht unbedingt ein Genre, welches für seine enorme Popularität bekannt ist. Selbst die prominentesten Vertreter, wie Depressive Silence oder Mortiis, dürften den wenigsten Musikinteressierten ein Begriff sein. Das Mailänder Künstler-Kollektiv Heimat der Katastrophe veröffentlichte 2018 eine Vielzahl von Werken, beinahe allesamt als Dungeon Synth klassifizierbar. Besonders hervorzuheben ist sicherlich ,,The Citadel of Evil”, welches den Soundtrack zu einem realen RPG-Modul mit dem gleichen Namen bietet. Die Intensität der hier heraufbeschworenen Melodien versetzt einen ohne Weiteres in die nachempfundene Rollenspiel-Welt.

Anspiel-Tipp: Old school dungeon crawling, Rusted chains

 

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  1. Low – Double Negative
    Glitch Pop / Ambient Pop | Sub Pop

Die Slowcore Gallionsfiguren Low zeigen auf „Double Negative“, dass sie nach 25 Jahren Bandgeschichte noch immer an der Speerspitze musikalischer Grübler sitzen. Ihr bereits 12. Album zeigt die Band auf einer Reise in Klangsphären voll verzerrter Synthsounds und emotionalem Tumult. In mitten dieses Sturms rotieren die harmonischen Stimmen von Alan Sparhawk und Mimi Parker um einander in einer Suche nach Klarheit. Sie scheinen jedoch immer wieder von der kompromisslosen Verzerrung beiseite gedrückt zu werden. Diese Dichotomie aus Harmonie und rauen Klängen gipfelt in dem fantastischen Pop-Song „Rome (Always in the Dark)“, in dem die Elemente zu einem der besten Songs Lows langer Bandkarriere zusammenfließen. „Double Negative“ präsentiert eine Suche nach Ruhe und Intimität in einer komplexen, verzerrten Welt.

Anspiel-Tipp: Rome (Always in the Dark), Always Trying to Work It Out, Dancing and Fire

 

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  1. Tierra Whack – Whack World
    Alternative R&B / Pop Rap | get it on Bandcamp!

15 Titel, 15 Minuten. Was mehr nach einem Grindcore-Album als nach einer wundervollen Mischung aus Alternative R&B, Neo-Soul und Hip Hop klingt, wartet im Gegensatz zu Grind-Gepolter mit 15 der eingängigsten Melodien aus 2018 auf. Das kreative Potential der Newcomerin, welches hier auf diese extrem geringe Minuten-Anzahl destilliert wird, ist enorm, weder eine Melodie noch eine Textzeile scheint fehl am Platz. Davon muss es 2019 mehr geben, im Idealfall ein 45-minütiges Album. Vollkommen gleich ob mit 15 oder 45 Titeln.

Anspiel-Tipp: Cable Guy, Hungry Hippo, Pet Cementary

 

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  1. Denzel Curry – TA13OO
    Southern Hip Hop / Trap Rap | Loma Vista

Rap wird im aktuellen Zeitgeist oft als der neue Rock präsentiert. Wenn das stimmt, dann ist die Florida Bewegung des Soundcloud-Rap der neue Punk. Der aktuelle Soundtrack der jugendlichen Counter-Culture setzt auf verzerrte Sounds, minimale Instrumentierung und Shock Faktor. Ein Statement, das heute genauso korrekt klingt wie vor 40 Jahren. Ausnahme Poet Denzel Curry verkörpert auf seinem neuen theatralischen Sound-Werk „Ta13oo“ die kunstvolle Seite der Bewegung, jedoch mit genauso viel Intensität und Eingängigkeit wie seine Kollegen. Das Video der Lead-Single „Clout Cobain“ präsentiert den Rapper als tragischen Clown eines horroresquen Zirkus – in Sinnbild, das sich durch das komplette Konzept des Albums zieht. In einer Bewegung in der Emotionalität und persönlicher Ausdruck so hochgeschrieben steht, entpuppt Denzel die Show hinter allem und den Schaffens- sowie Leistungsdruck mit dem ein junger Rapper zu kämpfen hat. „Ta13oo“ wird zu einem fokussierten Blick auf die Schattenseiten des „Rap-Zirkus“ und Denzels Stellung in diesem als ein reflektierter Meister der Trap-Banger.

Anspiel-Tipp: SWITCH IT UP, VEGENCE, SIRENS

 

20

  1. JPEGMAFIA – Veteran
    Glitch Hop / Experimental Hip Hop | Deathbomb Arc

Zwar steht der Death Grips-Vergleich für das New Yorker Solo-Projekt JPEGMAFIA aus unerfindlichen Gründen stets im Raum (Nicht vergessen, nicht alles was Hip Hop und experimentell ist, kommt automatisch aus Sacramento und klingt als ob der Frontmann mit den großen Zehen voran gegen ein Möbelstück gelaufen ist. Die gleiche Diskussion gab es bereits einige Jahre zuvor bei clipping – und war auch hier nicht unbedingt gerechtfertigt.), was Frontmann und Alleinunterhalter Peggy hier allerdings auf das Publikum loslässt, ist schwer mit anderen Musik-Projekten zu vergleichen. Aggressiv, mit einem Augenzwinkern und trotzdem vollkommen übergeschnappt, entfesselt ,,Veteran” ein glitchy Industrial Hip Hop Feuerwerk in den Gehörgang ahnungsloser HörerInnen. Ein Feuerwerk, welches noch lange nach dem Entzünden Funken sprüht.

Anspiel-Tipp: Real Nega, Baby I’m Bleeding

 

19

  1. Big Red Machine – Big Red Machine
    Art Pop / Indietronica | Jagjaguwar

Das gleichbetitelte Projekt und Album Big Red Machine bietet die kreative Synthese von zwei der formidabelsten Songwriter der Indie Welt. Bon Ivers Meister-Barde und Soundkünstler Justin Vernon sowie Aaron Dessner, Liedschmied der melancholischen Indie-Rocker The National, begeben sich auf eine Reise des sich-absichtlich-Verirrens. Das elektronische Experiment des zuletzt erschienenen Bon Iver Meisterwerks „22 A Million“ findet hier eine zurückführende Integration in Indie- Folk und Rock Kompositionen. Während „22 A Million“ die Loslösung von einer körperlichen und organischen Klangwelt war, zeigt „Big Red Machine“ die Wiederentdeckung der puren Freude am Songwriting im Zwischenspiel gleichgesinnter Künstler. Quer-gedachte elektronische Sound-Experimente bilden auch hier wieder ein zentrales Element des klanglichen World-Buildings werden jedoch eher wie ein Instrument von vielen eingeflochten. „Big Red Machine“ zeigt sich als ein Liebeslied an das Musizieren und ein staunender Blick auf die fantastische Welt der Klänge.

Anspiel-Tipp: Lyla, Gratitude, I Won´t Run From It

 

18

  1. Zeal and Ardor – Stranger Fruit
    Avant-Garde Metal / Black ‘n’ Roll | Radicalis

Der Schweizer Künstler Manuel Gagneux realisiert auf ,,Stranger Fruit” in vollem Umfang was auf ,,Devil Is Fine” (2016) bereits angedeutet wurde. Zwar sucht man ganz große Nummern wie ,,Devil Is Fine” oder ,,Blood in the River” auf dem neuesten Werk vergeblich, dafür sind glücklicherweise auch die doch etwas störenden Ambient oder Instrumental Hip Hop-Titel des Vorgängers nicht mehr vorhanden. Das zunächst befremdlich wirkende Konzept der Working Chants / Spirituals in Kombination mit Avant-Garde Metal wird hier vollständig und erstmals auch auf Albumlänge umgesetzt. Wer Stillstand im Rock-Genre vermutet, sollte um voreilige Urteile zu vermeiden, auf jeden Fall zu dieser Platte greifen.

Anspiel-Tipp: Gravedigger’s Chant, Row Row

 

17

  1. Judas Priest – Firepower
    Heavy Metal | Epic

Eine der dienstältesten Heavy Metal-Bands schafft 2018 das, woran viele alte Hasen des Genres scheitern: Durch behutsame Neuerungen ein interessantes Album zu schaffen, ohne die langjährige Fanbase dabei zu vergraulen. Rob Halford mag schon beinahe 70 sein, auf ,,Firepower” klingt er frisch wie eh und je. Stimmliche Exzellenz ist jedoch nicht die einzige Qualität, die das achtzehnte (!) Album der UK-Schwermetaller mit sich bringt: Eingängige Riffs (danke Richie Faulkner!), messerscharfe Produktion sowie eine unglaublich konsistente erste Hälfte der Platte. Einzige Kritikpunkte sind die doch etwas angestaubten Texte sowie die vereinzelten Filler (allerdings Filler in Relation zur extrem hohen Qualität der anderen Titel), die sich gegen Ende in die Track-Liste schleichen – warum nicht das Werk auf die bewährten neun bis zehn Titel runterkürzen? Die traditionelle End-Ballade ,,Sea of Red” versöhnt dann aber wieder. Alles in Allem sicherlich eine der aktuell stärksten Veröffentlichungen aus der seit einiger Zeit etwas verstaubten Heavy Metal-Sparte.

Anspiel-Tipp: Firepower, Evil Never Dies, Sea of Red

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  1. Ben Howard – Noonday Dream
    Indie Rock / Singer_Songwriter | Island

Vom catchy Songwriting, dem Surfer Image und den Lagerfeuer-Vibes des Erstlingswerks „Every Kingdom“ ist in Ben Howards 2014er Melancholie-Meisterwerk „I Forget Where We Were“ nicht viel übriggeblieben. Statt die sonnige Jack Johnson-esque Seite seines Sounds auszubauen oder sich gefühlvollem Acoustic Pop á la Ed Sheerans frühen Hits zu widmen, stieg er hinab in eine melancholische Welt zwischen Indie-Folk, Ambient-Pop und Post-Rock. Auf seiner perfekt betitelten neuen Sound-Odysee „Noonday Dream“ kreiert der Meister-Songwriter ein eskapistisches Werk voller mühelos gleitender Stimmungen die zum Loslassen einladen. Die Melodien scheinen ungreifbar über dem scheinbar statischen Songwriting zu schweben, jedoch mit jedem wiederholten Hören entpuppen sich eine Unzahl an pulsierenden Soundelementen, die sich zu einem meisterhaften Ganzen zusammenweben. Die oft kryptische Lyrik zeigt folglich Momentaufnahmen der Loslösung von den „Small Things“, welche auf dem Vorläufer-Album Ben Howard alles hinterfragen ließen. Auch die Sonne des Erstlings scheint zurückgekommen zu sein, jedoch äußert sie sich keineswegs auf eine ähnliche Weise, vielmehr glüht sie über allem und brennt die Zweifel aus dem tagträumenden Hörer.

Anspiel-Tipp: Nica Libres At Dusk, Towing The Line, There’s Your Man

 

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  1. Iglooghost – Clear Tamei / Steel Mogu
    Wonky / Glitch Hop | get it on Bandcamp!

Producer Extraordinaire Iglooghost öffnet erneut das Warp-Loch zu seiner Verrückten Galaxie voller kunterbunter Cartoon-Wesen. Die zugleich veröffentlichten Schwester-EPs „Clear Tamei“ und „Steel Mogu“ fügen sich zu einem bipolaren Weltraum-Epos zusammen (und werden deshalb hier als ein Album angesehen). „Clear Tamei“ präsentiert sich schillernd, pur, übersinnlich und utopisch. „Steel Mogu“ zeigt sich metallisch, verzerrt und anarchistisch. Zusammen zeigen sie beide Seiten einer Münze des perfekten elektronischen Wahnsinns. Melodien rasen durch die Luft und lösen sich sofort wieder auf. Intensive Break-Beats zerschneiden die Luft und ändern plötzlich den Rhythmus. Iglooghosts Sound-Welt ist unberechenbar, überladen und unglaublich physisch. Jeder einzelne Klang scheint greifbar um den Hörer zu rotieren, nur um augenblicklich wieder in unbekannte Dimensionen abzurauschen. Im Kern des kunterbunten Durcheinanders steht jedoch merkbar ein junger Geist, der in einer desorientierenden Welt nach Halt sucht und so entpuppt sich, hinter dem bewusstseinserweiternden Sound-Rausch, eine unglaublich menschliche Dimension.

Anspiel-Tipp: Mei Mode, New Vectors, Clear Tamei,

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  1. Sir Tralala – Echt Gute Böse Lieder
    Austro-Death / Avant-Garde Folk | Schallter/monkey

Ein kurzer Absatz ist beinahe zu wenig, um die Bandbreite zu erfassen, die auf ,,Echt Gute Böse Lieder” geboten wird (Deshalb ist unser Review zu dem Album durchaus lesenswert…). Country-Gitarren, bösartig-bissige Texte, Leichenhumor, Drankler-Ästhetik, österreichische Morbidität, Punk-Attitüde, schnarrende Electro-Sounds, und natürlich die wunderbare Stimme des Sirs. Dieser lamentiert, schreit, dröhnt und singt sich durch die neun Titel lange Platte, dass es einem die Nackenhaare aufstellt, allerdings im allerbesten Sinne. Ein Album (nicht nur) zum Blumen hinmachen.

Anspiel-Tipp: Der uroide Wanderer, Schiach, Stirb langsam

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  1. Sigrid Horn – Sog I bin weg
    Chamber Music / Singer_Songwriter | BaderMolden

Nichts Geringeres als das erschütterndste Album 2018 legt die Mostviertler Liedermacherin Sigrid Horn mit ihrem Debüt-Werk ,,Sog I bin weg” vor. Unterstützt durch die minimalistische Instrumentation (meistens Klavier oder Ukulele, manchmal Bratsche) und ausdrucksstarken Stimmdarbietungen wird hier ein karges Werk gesponnen, welches es schafft, intime Geschichten zu erzählen, die dennoch offen genug sind, um ganz eigene Interpretationen zuzulassen. Wie Nebel deckt die Platte zu, schmiegt sich an und lässt so schnell nicht mehr los.

Anspiel-Tipp: woiza, kassandra, huankind

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  1. Respire – Dénouement
    Blackgaze / Screamo | get it on Bandcamp!

Auf „Dénoument“ kreiert das Post-Black-Metal Kollektiv Respire ein Werk der puren Katharsis und die musikalische Verkörperung des gleißendsten Lichts, das aus den dunkelsten Schatten hervorbricht. Orchestrale Elemente schwirren hier um Black-Metal-Blastbeat-Wände und vereinen sich zu einem potenten Sturm der Emotionen. Die traumhaft schönen Melodien der Violinen schneiden durch die finsteren Abgründe, welche die Gitarren aufreißen wie Messer aus purem Licht. Im Song „Catacombs“ bilden atmosphärische Screamo Phasen ein intensives Bild der Trauer, bis eine zarte und elegante Melodie getragen nur von einer Violine alle Zweifel davonspült. Kurz darauf steigt eine verzerrte E-Gitarre in die Melodie ein, in einem Moment der perfekt disharmonischen Harmonie, bis die komplette Band hervorbricht in einem der intensivsten und überwältigendsten musikalischen Momente des Jahres. Respire‘s Musik ist das Luftholen knapp vor dem Ertrinken, sie ist der erste Sonnenstrahl nach der polaren Nacht und die komplette Loslösung von der Trauer.

Anspiel-Tipp: Bound, Catacombs, Virtue

 

11

  1. Jean-Michel Blais – dans ma main
    Modern Classical / Post-Minimalism | Art & Craft

„Dans ma main“ ist eine Ode an die kreative Macht in der Hand eines Menschen. Ausnahme-Pianist Jean-Michel Blais verwirklicht durch seine, eine perfekte Balance aus minimalistischer Komposition und der Stille, die sie umgibt. Das Eröffnungsstück „forteresse“ beginnt mit Blais´ zarten Klaviertönen, die wie Perlen durch glasklares Wasser brechen und zu klanglichen Wellen werden, die Blais durch elektronische Bearbeitung erwirkt. „Dans ma main“ präsentiert eine Synthese aus meisterlich-emotionalen Klavierkompositionen und dezenten elektronischen Akzenten, zart unterstützt von getragenen Streichern. Diese Komponenten kreieren ein unglaublich harmonisches Klangbild, in dem die einzelnen Elemente sich genau dann in den Fokus bewegen, wenn sie ihr emotionales Potential verwirklichen. Wie zum Beispiel in „a heartbeat away“, wo in der zweiten Hälfte des Stücks die davor so zarten elektronischen Klänge zu einem Sturm aufbrausen, der einen intensiven Klimax bildet. Darauf folgt der Album-Closer „Chanson“. Eines der schönsten und berührendsten Lieder des Jahres. In diesem wird auch noch Jean-Michel Blais´ Stimme in den traumhaft schönen Klangteppich eingewebt, so dass seine Worte verschwimmen und mit den Instrumenten eins werden. Damit bleibt der lyrische Raum frei für die Gedanken des Hörers. „Dans ma main“ zeigt Antworten, auf die Worte keine finden würden.

Anspiel-Tipp: chanson, roses, dans ma main

 

10

  1. Ghost – Prequelle
    Heavy Metal / Hard Rock | Spinefarm

Ganz vom unheiligen Thron kann ,,Prequelle” den Vorgänger ,,Meliora” (2015) nicht stoßen, das muss aber auch nicht sein. Einen Haufen eigener Vorzüge bringt die Neuerscheinung aus dem Hause Ghost mit sich, einige weniger harte Metal-Stampfer (,,Rats”, ,,Faith”) und einen ganzen Haufen Blackened Disney-Power Balladen (,,Pro Memoria”, ,,Life Eternal”), inklusive zwei komplett instrumentaler Tracks, all das hat die Platte zu bieten. ABBA und Ghost haben so manche Gemeinsamkeit: Hervorragende Song-Writer mit einem Näschen für wahnsinnig eingängige Musik-Titel ist wohl die naheliegendste Überschneidung.

Anspiel-Tipp: Faith, Dance Macabre, Helvetesfönster

 

09

  1. Cursive – Vitriola
    Post-Hardcore / Indie Rock | 15 Passenger

Post-Hardcore-Schwarzmaler Cursive hatten immer schon einen Feinsinn dafür, die Shit-show des Alltagslebens in nihilistische Werke des cineastischen Dramas zu kanalisieren. So ist es auch kein Wunder, dass so eine Band im sozialpolitischen Tumult der Gegenwart kreativ gedeiht und ihr fesselndstes Album in 15 Jahren veröffentlicht. Die Rückkehr des Gründungs-Drummers und das erneute Anheuern einer Cellistin, im Geiste ihres karriere-definierenden 2003 Magnum-Opus „The Ugly Organ“, scheint das kreative Feuer der Band auf „Vitriola“, ihrem ersten neuen Werk in einer halben Dekade, erneut entfacht zu haben. Dieses sieht die Band eintauchend in den alltäglichen Horror der modernen Welt, den sie mit voller Feuerkraft, so wie melancholischem Feingefühl zu einer Hymne für nihilistische Millennials bündeln. Emotionales Drama und soziopolitisches Lamentieren klang selten unwiderstehlicher.

Anspiel-Tipp: Under the Rainbow, It´s Gonna Hurt, Ouroboros

 08

  1. Kids See Ghosts – Kids See Ghosts
    Experimental Hip Hop / Alternative R&B | Good

Als Kanye West (ist hier noch eine Vorstellung notwendig?) seinen Fünf-Alben-Plan für 2018 stolz verkündete, gab es zunächst breite Zweifel: Wird er das wirklich durchziehen? Mr. West ist durchaus bekannt dafür, Release-Daten eher als grobe Richtlinien zu sehen, die man einhalten kann – wenn man denn möchte. Am 25.05. war es dann tatsächlich so weit, ,,Daytona”  von Pusha T, als erstes Album der Veröffentlichungs-Serie aus dem Hause GOOD Music, war hörbar. Und es war verdammt gut. Dennoch wurde gebangt, würde Ye auch sein für den 01.06. angekündigtes Album, mit dem simplen Titel ,,ye”, ebenfalls zeitgerecht herausbringen? Tatsächlich, am 01.06. wurde gedropped, ,,Ye” wurde gestreamed, bis die Leitungen heiß liefen. Ernüchterung. 24 Minuten mittelmäßiger Kanye-R&B und Soul (Zur Beruhigung: Mittlerweile hat sich mir persönlich die Intention hinter dem Album offenbart, ich mag die Platte jetzt ganz gerne.), mit der Ausnahme des erhabenen ,,Ghost Town”, sowie des gänsehautverursachenden Intros zu ,,I Thought About Killing You”. Dafür auch noch ein Drake-Writing Credit auf ,,Yikes”, ,,Scorpion” war doch schon schlimm genug.
Eine Woche später, der Kollaboration-Release mit Kid Cudi, als neu gegründetes Projekt ,,KIDS SEE GHOSTS”, steht an. Das Cover, gestaltet von Takashi Murakami (bereits bekannt als Designer des ,,Graduation”-Covers (2007)), deutet nicht unbedingt auf Hip Hop hin. Nachdem ,,Fell The Love” langsam verklingt: Offenstehender Mund. Ist das absoluter Müll oder das beste Kanye West-Kunstwerk seit ,,My Beautiful Dark Twisted Fantasy” (2010) (bzw. ,,Ultralight Beam” auf ,,The Life Of Pablo” (2016))? Spätestens nach ,,Fire”, während die ersten Sample-Töne von ,,4th Dimension” ertönen, ist es offensichtlich, dass hier eines der interessantesten Hip Hop-Werke der 2010er vorliegt. Die vollkommen extatischen Improvisationen auf dem Intro-Track, die melodischen Ausschweifungen von Kid Cudi, die manchmal fast psychedelisch anmutenden Instrumentationen, hier wird nahezu alles richtig gemacht. Selbst die Album-Länge, wenn auch kurz und bündig 24 Minuten gehalten, lässt auf eine gnadenlose Qualitätssicherung (wie bei allen Veröffentlichungen der Wyoming-Sessions) schließen, auf dieser Ausnahme-Platte haben halbgare Titel einfach keinen Platz. Eine offene Frage bleibt allerdings noch: WO IST YHANDI?

Anspiel-Tipp: Feel The Love, 4th Dimension, Reborn

 

07

  1. The Armed – Only Love
    Post-Hardcore / Noise Rock | No Rest Until Ruin

Puren akustischen Wahnsinn bringt die Genre-schmelzende Punk-Formation The Armed auf ihrem maximalistischen Sound-Angriff „Only Love“, welcher sich als eines der kompromisslos kreativsten Alben des Jahres entpuppt. Die Band scheint alles, was sie an brachial-harten Genres finden konnte, in einen Mixer zu werfen und dann dies mit schillernden Synthezisern, eingängigen Post-Punk Hooks und atmosphärischen Post-Rock Klängen zu übergießen. Von Converge inspirierte Mathcore-Attacken reihen sich so an Synth geleiteten Post-Punk, der auf einem alten The Killers Album zu finden sein könnte. Dabei gelingt es der Band aber, inmitten dieses kompletten Genre-Chaos einen eigenen Sound zu formen, welcher brutal, nihilistisch und Noise-überladen, so wie catchy, schillernd und spaßliebend beim Hörer ankommt. „Only Love“ ist ein Statement der kompletten künstlerischen Freiheit, mit dem Ziel, alleine dessen Schöpfer zufrieden zu stellen. Dabei ist ein vollkommen verrückter Sound-Trip entstanden, mit einem hohen Suchtpotential, welches den Hörer immer und immer wieder hineinzieht.

Anspiel-Tipp: Einfach das Album starten und die wilde Fahrt genießen.

 

06

  1. Death Grips – Year Of The Snitch
    Experimental Hip Hop / Noise Rock | Third Worlds

Verhältnismäßig wenig war 2017 vom berühmt-berüchtigten Hip Hop (?) – Trio Death Grips zu hören. Abgesehen von einer hervorragenden EP (,,Steroids (Crouching Tiger Hidden Gabber Megamix)”) tröpfelten Gerüchte ob eines neuen Albums vor sich hin. Würde es 2017 noch eine Veröffentlichung geben? Nein, denn erst zwei volle Jahre nach ,,Bottomless Pit” gibt es ,,Year Of The Snitch” auf die Ohren. Und es ist hervorragend, kein Zweifel. Umso erschreckender, dass das Album seltsamerweise kaum Eingang in End Of The Year-Listen bei den Kollegen anderer Musik-Publikationen gefunden hat. Wie es bei Death Grips nun mal üblich ist, stellt sich die Frage: Ist das überhaupt noch Hip Hop? Ja und nein. Stefan Burnett beginnt nicht plötzlich AOR-Sänger zu imitieren und Zach Hill prügelt manisch wie eh und je. Doch passagenweise fühlt es sich so an, als würde man eher einem Experimental Rock-Release als einer Hip Hop-Platte lauschen. Was allerdings durchaus willkommen ist, all der Synth und all der Noise, selbst das (zugegeben recht redundante, aber was tut man nicht alles für Internet-Exposure) Gastspiel von Shrek-Regisseur Andrew Adamson auf ,,Dilemma”, zeigt den nach wie vor vorhandenen Willen der Schreckschrauben aus Sacramento, sich weiterzuentwickeln. Es bleibt abzuwarten, wie viel Energie und Kreativität der Truppe noch vergönnt ist (nicht, dass sie noch irgendetwas zu beweisen hätten), der einzige Weg für dieses Projekt ist nach vorne.

Anspiel-Tipp: Death Grips Is Online, Black Paint, Streaky

 

05

  1. Julia Holter – Aviary
    Art Pop / Chamber Jazz | Domino

2018 präsentierte sich musikalisch von konzeptgeleiteten, sozialkritischen Alben dominiert, einige davon schmücken auch diese Liste. Wenn es ein Album gibt, dass diese zwei Aspekte ins absolut Äußerste trägt, dann ist es Julia Holters neuester Magnum Opus „Aviary“. Mit einer Länge von 90 Minuten und ausladenden Geräuschkulissen präsentiert sich die Klangwelt des titelgebenden Vogelhauses mehr wie ein Film als ein Album. Lineare Songstrukturen, orchestrale Instrumentierung und lebensbezogene Klangspiele kreieren eine cineastische Atmosphäre, welche das endlose Stimmengewirr unserer Internetkultur verkörpert. Julia Holters spielerisches Songwriting führt auf den 15 Songs des Albums eleganten Chamber-Jazz und Art-Pop zusammen mit einer Vielzahl von beinahe ungefilterten Klang-Experimenten. Dabei entsteht ein desorientierendes Experimental-Album, geschmückt mit Momenten purer musikalischer Schönheit. „Aviary“, das Vogelhaus, präsentiert so nicht nur das unaufhörliche Geschnatter seiner Bewohner sondern auch deren Vermögen himmlische Harmonien zu kreieren.

Anspiel-Tipp: Einfach das cineastische Werk starten und die Klangwelt genießen.

 

04

  1. Clarence Clarity – Think: Peace
    Glitch Pop / Alternative R&B | get it on Bandcamp!

Hallo Postmoderne! Hallo kunterbunter Wahnsinn! Willkommen zu Clarence Clarity‘s zweitem futuristischen Pop-Abenteuer „Think: Peace“, ein farbenfroher Ritt durch abstrakte Utopien am Rande des Wahnsinns. Wo auf dem Vorgängeralbum „NO NOW“ die musikalischen Experimente extremer, aber ausgelagerter erschienen, fusioniert Clarence Clarity hier alle Elemente seines Sounds zu einem wasserdichten Soundscaping-Meisterstück. Song um Song wirft einen das Sound-Genie in diverseste unfassbare Klangwelten, welche sich desorientierend, endlos kreativ und gewaltig catchy zugleich präsentieren.

Schon beim ersten Hören bahnen sich die wahnsinnig eingängigen Hooks ins Gehirn, während man aber absolut keinen Plan hat, was eigentlich alles in den Instrumentals abgeht. „Think: Peace“ bietet Musik so dicht, dass man gar nicht darüber nachdenken kann, was hier passiert und plötzlich singt man, tanzend in der U-Bahn den unglaublich eingängigen Refrain von „Law of Fives“ „I kill People in my Dreaaaaams“, ungläubig bestaunt von Menschen, die sich fragen, „was hat der genommen?“. Die Antwort ist absolut klar: die Droge heißt „Think: Peace“ und sie, ist eines der besten Alben des Jahres.

Anspiel-Tipp: Adam & The Evil, W€ Change, Fold ´Em

 

03

  1. Current 93 – The Light Is Leaving Us All
    Neofolk / Avant-Folk | The Spheres

Eine Frage, die sich unweigerlich beim Hören von ,,The Light Is Leaving Us All” aufdrängt, lautet sicherlich: Warum ist Herr Tibet so unglaublich versessen darauf, permanent von Licht, Nichts, Hexen und Vögeln zu erzählen? Was aber nicht unbedingt als Kritik zu verstehen ist. Man fühlt sich sofort heimisch, das ist Neofolk – Current 93 in Bestform. Das Avant-Garde Projekt aus Großbritannien liefert mit ,,The Light Is Leaving Us All” das dritte Werk 2018, welches nach einem experimentellen Sound Collage-Album (,,The Stars on Their Horsies”) sowie der recht sperrigen Platte ,,Mirror Emperor” in Kollaboration mit der italienischen Gruppe Zu, sicherlich das eingängigste und einfachste Album des Dreierpacks darstellt. David Tibet haucht dramatisch aus den Boxen, Vögel kreischen, eine sanfte akustische Gitarre klimpert vor sich hin, selbst Horror-Autor und Langzeit-Kollaborateur Thomas Ligotti ist wieder stimmlich vertreten. Musik, um an einem Lebkuchenhäuschen zu knabbern (und erwischt zu werden).

Anspiel-Tipp: The Policeman Is Dead, Your Future Cartoon

 

02

  1. Drangsal – Zores
    Neue Deutsche Welle / Post-Punk | Caroline

Die blutjunge Post-Koryphäe Max Gruber, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Drangsal, liefert 2018, nur zwei Jahre nach dem Debüt-Album ,,Harieschaim”, bereits neues Material. Kommt das erste Werk noch großteils Englisch und deutlich beeinflusst von den nicht unbedingt subtil verarbeiteten Vorbildern Joy Division, Morrissey und Depeche Mode daher, wird auf ,,Zores” ein anderer Weg eingeschlagen. ,,Wo man mich vermutet / steh’ ich schon lange nicht mehr” tönt es den HörerInnen auf ,,Und Du? (Vol. II)” um die Ohren, ein Versprechen welches auch durchaus eingelöst wird. Die Post-Punk-Anteile sind etwas zurückgeschraubt worden, die deutschsprachigen Reimkünstler stehen nun eindeutig im Vordergrund, umschmeichelt von Jangle- und Wave-Instrumentationen. Und was für Texte Señor Gruber schreiben kann! Es ist eine wahre Freude, ihm beim Trällern von Düsterlieder und Liebespop zuzuhören. ,,My pasty face is a disgrace for all the human race”, lässt der Wahl-Berliner auf ,,Arche Gruber” verlauten, die Muffigkeit von ,,Harieschaim” ist also keineswegs passé, sie hat sich hier nur meist besser versteckt.

Anspiel-Tipp: Und Du? (Vol. II), Magst Du mich (Oder magst Du bloß noch dein altes Bild von mir)

 

01

  1. SOPHIE – OIL OF EVERY PEARL’S UN-INSIDES
    Bubblegum Bass / Deconstructed Club / Art Pop | Future Classic

SOPHIEs enigmatisch benanntes Debutalbum ist der schillernde Triumphzug einer der progressivsten Künstlerinnen der Musikwelt. Jahrelang formte sie mit dem Künstlerkollektiv PC-Music die Underground-Welt der elektronischen Musik. Überdreht, hyperaktiv und zuckerübergossen betörten ihre futuristischen Bubblegum-Pop Produktionen die Connaisseure der Elektronischen Musik. Dabei blieb sie jedoch persönlich stets im Schatten und ihre Identität blieb verborgen. Letztes Jahr stieg sie mit der wegbereitenden Single „It´s Ok to Cry“ in das Rampenlicht, eine Klavierballade geleitet von SOPHIEs purer Stimme und definiert durch ihre lebendigen Soundspiele. Dieses große Statement eröffnet auch ihr Debut Album „OIL OF EVERY PEARL`S UN-INSIDES“, welches die eleganten Sounds der Single jedoch sofort mit dem erderschütternden Banger-Duo „Ponyboy“ und „Faceshopping“ erwidert. Zwei verzerrte, dystopische Klangkolosse, die das Album gleich kraftvoll und fast brutal zu kreativen Höhen schießen. Direkt danach wechselt das Album den Gang hin zu zwei eleganten Art-Pop Balladen, welche mühelos durch die glasklare Luft zu schweben scheinen. Das fast sechsminütige Dark-Ambient Stück „Pretending“ präsentiert die düstere Aura einer einnehmenden Experimental-Sound-Wand. Durch das anfängliche Feuerwerk des Albums erwartet der Hörer einen alles niederreißenden Höhepunkt der Intensität. Es folgt jedoch „Immaterial“ ein schillerndes Bubblegum-Pop Meisterstück das zu SOPHIEs Wurzeln zurückführt und ein fast religiöses Erlebnis darstellt. Die Utopie ist perfekt, sie ist unglaublich grell und sie ist ungefilterte Freude. „OIL OF EVERY PEARL`S UN-INSIDES“ ist eine strahlende postmoderne Dekonstruktion des Selbst und ein absolut glorreicher Siegeszug des Lebens.

Anspiel-Tipp: It´s Okay to Cry, Faceshopping, Immaterial